Barsinghausen gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus

Anlässlich des 73. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz erinnerte die Stadt zusammen mit zahlreichen Bürgern mit einer Kranzniederlegung an die Schrecken der Nazi-Herrschaft

BARSINGHAUSEN (ta/red). Heute jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 73. Mal. Im Gedenken an die Opfer der Schreckensherrschaft des nationalsozialistischen Regimes versammelten sich zwischen Rathaus und Kloster rund 60 Bürger, Vertreter der Siegfried-Lehmann-Stiftung, der Parteien und Kirchen. Zusammen mit der Ratsvorsitzenden, Claudia Schüßler, und HAG-Schülerin Khim-Annelie Schröder legte der stellvertretende Bürgermeister, Karl-Heinz Neddermeier, einen Kranz am Gedenkstein nieder. In seiner Rede sagte Neddermeier: „Am 27. Januar 1945 befreiten Truppen der sowjetischen Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Die Welt war über die Gräuel, die damals ans Licht kamen, schockiert. Das Verständnis der Menschheit über die Geschichte und über das Ausmaß des Bösen, dessen Menschen fähig sind, ist seit damals ein anderes. Wir können, was geschehen ist, nicht ändern oder rückgängig machen. Uns ist aber Auftrag und Verpflichtung die Erinnerung an diesen Zivilisationsbruch, das Gedenken an die Opfer und die Verantwortung, die uns heute daraus erwächst, wachzuhalten. In einer Welt, die uns unsicher, ruhelos und ungeordnet vorkommen mag, sei die Geschichte Lehre, Mahnung und Ansporn zugleich. Das Erinnern hat kein Ende und darf es auch nicht haben. Wenn es aber immer weniger Zeugen gibt, die unmittelbar erzählen können, was andere nur zum Akt ihrer „Betroffenheit“ machen können, wie wird die „Ewigkeit des Grauens“, wie der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert die zwölf Jahre der Nazi-Diktatur nannte, auch zur Ewigkeit der Erinnerung? Überlässt man diese Frage Historikern, Politikern, Didaktikern und Geschichtsphilosophen, mithin den Verwaltern unserer „kollektiven Erinnerung“, wird eine Kultur, von Jahr zu Jahr mehr untergehen. Es muss schon unmittelbare Erfahrung hinzukommen; das sind die Gespräche mit Kindern und Jugendlichen über die eigenen Erinnerungen, über die Erinnerungen – oder das Nicht-erinnern-Wollen – der Eltern, über die Erlebnisse, die ein Verständnis für diese Vergangenheit wecken. Das ist wesentlich richtungweisender, als aus Anlass der Jubiläumsdaten die Geschichte zu verbrämen. Dass es Leute gibt, die Gedenktage nur mit Verachtung oder Hohn begleiten, wird nicht darauf zurückzuführen sein, dass die deutsche Erinnerungskultur fehlgeleitet oder zu schwach ist. Achtzig Jahre nach der „Machtergreifung“ Hitlers verführt das Unfassbare mehr denn je zum Irrtum der Faszination. Auch dagegen hilft nur die Kraft der alltäglichen Erinnerung, nicht die Keule der Erziehung. Viele Zeitzeugen, wie hier an dieser Stelle im vergangenen Jahr Frau Kretz, haben seitdem hier in Barsinghausen berichtet – Überlebende aus den Konzentrationslagern, aus den Ghettos und dem Untergrund, auch Überlebende belagerter, ausgehungerter Städte. In bewegenden Worten haben sie uns teilhaben lassen an ihrem Schicksal. Und sie haben gesprochen über das Verhältnis zwischen ihren Völkern und den Deutschen, in dem nach den Gräueltaten der Nationalsozialisten nichts mehr so war wie zuvor. Wie kann die Erinnerung an Auschwitz aufrechterhalten werden? Die Schrecken des Holocaust dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Doch immer weniger Zeitzeugen können selbst aus dieser Zeit berichten. Wie lässt sich die Erinnerungskultur weiterleben? „Nie wieder“, war das zentrale Versprechen nach Auschwitz. Gab es danach nicht Kambodscha, Ruanda, Darfur, Srebrenica, Myanmar, die Türkei, Syrien und den Irak? – so könnten wir hinzufügen. Auch wenn hier die Verbrechen nicht die Dimension nationalsozialistischen Mordens erreichten und erreichen, so ist es doch schrecklich entmutigend, wenn Genozid und Massenmord fast Routine werden. Wenn die Welt „Nie wieder“ erkläre, aber die Augen vor dem nächsten Genozid verschließe. Gestatten Sie mir, nicht einfach bei der Konstatierung dieser bedrückenden Tatsache stehenzubleiben, sondern weiter nachzufragen: Sind wir denn bereit und fähig zur Prävention, damit es gar nicht erst zu Massenmorden kommt? Sind wir überhaupt imstande, derartige Verbrechen zu beenden und sie zu ahnden? Fehlt manchmal nicht auch der Wille, sich einzusetzen, gegen solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Es ist ein großer Erfolg, dass Völkermord seit 1948 verfolgt werden kann, nämlich seit der Verabschiedung der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes. Internationale Strafgerichtshöfe sind mehrfach tätig geworden. Sie können gegen jene ermitteln, die danach trachten, – ich zitiere – „eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Zugleich konfrontiert uns die Entwicklung aber auch mit der bitteren Erkenntnis, dass Strafe nur selten abschreckend wirkt und Prävention bislang selten rechtzeitig erfolgte. Ist die mörderische Dynamik erst einmal in Gang gesetzt, ist sie nur schwer zu stoppen. Oft ist Hilfe sogar unmöglich. Weil wir nicht allmächtig sind, haben wir zu leben mit der moralischen Bürde, das Leben von Menschen nicht immer und überall schützen zu können. Ebenso wenig, wie der Frieden, als der Zustand umfassender Glückseligkeit, jemals auf Erden zu erreichen ist, wird sich das „Nie wieder“ gänzlich erfüllen. Aber als moralisches Gebot, als innerer Kompass, bleibt es dennoch unverzichtbar. Denn das Streben nach friedlichem und gerechtem Zusammenleben von Menschen und Völkern ist eine wichtige, ja, wohl die wichtigste Richtschnur unseres Handelns. Und wenn wir das Unheil schon nicht gänzlich zu bannen vermögen, so sind wir doch angehalten, es zu ächten und dafür zu arbeiten, dass es nicht soweit kommen kann. Nur durch gemeinsamen Dialog, Respekt und Toleranz voreinander können Vorurteile abgebaut werden, damit solche Verbrechen nie mehr entstehen. Die Welt ist voll von Gedenktagen und jede Opfergruppe erinnert sich bestens an ihre eigenen Tragödien. Doch haben die Erinnerungen je verhindert, dass es zu einer neuen Katastrophe kommt? Alles Gedenken bringt nichts, wenn man nicht auch Lehren zieht. Jeder von uns hat in seiner Familie, im Freundeskreis, auf der Arbeit und im Verein Menschen um sich, die hier in Deutschland oder in anderen Teilen der Welt, Vorurteilen, Diskriminierungen, Verfolgungen und Verbrechen ausgesetzt sind bzw. waren, auf Grund einer vermeintlichen Andersartigkeit. Deshalb gedenken wir heute der Opfer des nationalsozialistischen Terrorregimes und legen ihnen zu Ehren einen Kranz an unserem Gedenkstein nieder. Gewiss werden nachfolgende Generationen neue Formen des Gedenkens suchen. Und mag der Holocaust auch nicht mehr für alle Bürger zu den Kernelementen deutscher Identität zählen, so gilt doch weiterhin: Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz. Die Erinnerung an den Holocaust bleibt eine Sache aller Bürger, die in Deutschland leben. Er gehört zur Geschichte dieses Landes. Und es bleibt etwas Spezifisches: Hier in Barsinghausen, wo wir täglich an Häusern vorbeigehen, aus denen Juden deportiert wurden, wo wir an Erinnerungssteine mitten auf den Gehwegen verweilen können; hier in Deutschland, wo die Vernichtung geplant und organisiert wurde; hier ist der Schrecken der Vergangenheit näher und die Verantwortung für Gegenwart und Zukunft größer und verpflichtender als anderswo. In manchem Gespräch begegnet mir die Befürchtung, das Interesse der jungen Generation an den nationalsozialistischen Verbrechen werde schwinden. Ich teile diese Sorge nicht, bin mir aber bewusst, dass sich die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit weiter verändern wird und verändern muss. Viele Zeitzeugen hatten die Vergangenheit verdrängt, ihre Kinder die Verdrängung beklagt. Bei den Enkeln zeigt sich jetzt, dass zunehmende Distanz auch von Vorteil sein kann. Die Jungen können sich der schambehafteten Vergangenheit oft offener und uneingeschränkter stellen. Es überrascht immer wieder, in welchem Maße gerade Enkel und Urenkel verschüttete, tabuisierte Familiengeschichten erforschen, die jüdische Vergangenheit ihrer Wohnhäuser und Stadtteile erkunden und sich in Biographien von Verfolgten und Verfolgern versenken. Und wie sie in Menschen, die Juden retteten, nicht allein moralische Vorbilder sehen, sondern auch den Gegenbeweis der alten These: Man hätte ja doch nichts tun können! Selbst wenn wir in Zukunft auf die Begegnung mit Zeitzeugen verzichten müssen, so muss die emotionale Betroffenheit nicht verloren gehen. Auch Angehörige der dritten und vierten Generation, auch Menschen ohne deutsche Wurzeln fühlen sich berührt, wenn sie in Bergen- Belsen auf Koffern der Ermordeten die Namen ihrer einstigen Be-sitzer entdecken. Wenn sie in der verlorenen Weite von Birkenau auf die Reste der gesprengten Krematorien stoßen. Wenn sie das „Tagebuch der Anne Frank“ lesen oder den Film „Der Pianist“ sehen. Wir erleben immer wieder, dass Autobiographien, Dokumentationen, Spielfilme, Interviews mit Überlebenden oder Besuche an ehemaligen Stätten des Grauens auch jun-gen Menschen vergangenes Leid erschließen und ihre Seelen öffnen. Betroffenheit stellt sich auch nicht nur bei jungen Menschen ein, die einen familiären Bezug zur nationalsozialistischen Vergangenheit haben. Betroffen reagieren auch Menschen, die in der deutschen Geschichte erkennen, was menschenmöglich ist, und dass sich Menschenfeindlichkeit, Fanatismus und Mordbereitschaft in anderem Gewand anderswo wiederholen können. „Das haben Menschen Menschen angetan“. Auf diesen so einfach wie erschreckenden Nenner brachten es Mitglieder einer internationalen Untersuchungskommission unmittelbar nach der Befreiung der Konzentrationslager. Diese universelle Dimension des Holocaust ließ die Vereinten Nationen im Jahr 2005 den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust beschließen – als eine Verpflichtung des Menschen gegenüber dem Menschen. Wir alle, die Deutschland unser Zuhause nennen, wir alle tragen Verantwortung dafür, welchen Weg unser Land gehen wird. Solange wir leben, werden wir darunter leiden, dass die deutsche Nation mit ihrer so achtenswerten Kultur zu den ungeheuerlichsten Menschheitsverbrechen fähig war. Selbst eine überzeugende Deutung des schrecklichen Kulturbruchs wäre nicht imstande, unsere Herzen und unseren Verstand zur Ruhe zu bringen. Da ist ein Bruch eingewebt in die Textur unserer nationalen Identität, der im Bewusstsein quälend lebendig bleibt. Wer „in der Wahrheit leben“ will, wird dies niemals leugnen. Und doch konnten wir nach den dunklen Nächten der Diktatur, nach Schuld und Scham und Reue ein taghelles Credo formulieren. Wir taten es, als wir dem Recht seine Gültigkeit und seine Würde zurückgaben. Wir taten es, als wir Empathie mit den Opfern entwickelten. Und wir tun es heute, wenn wir uns jeder Art von Ausgrenzung und Gewalt entgegenstellen und jenen, die vor Verfolgung, Krieg und Terror zu uns flüchten, eine sichere Heimstatt bieten. Die moralische Pflicht erfüllt sich nicht nur im Erinnern. In uns existiert auch eine tiefe, unauslöschliche Gewissheit: Aus dem Erinnern ergibt sich ein Auftrag. Er sagt uns:
Schützt und bewahrt die Mitmenschlichkeit. Schützt und bewahrt die Rechte eines jeden Menschen.“

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