Auf Einladung der Siegfried-Lehmann-Stiftung referierte gestern Rebecca Seidler, Sozialpädagogin, Mitglied der liberalen jüdischen Gemeinde und Antisemitismus-Beauftragte der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, in Barsinghausen
BARSINGHAUSEN (ta). Wie sieht jüdisches Leben in Deutschland heute aus? Und wie gehen Menschen jüdischen Glaubens im Land der Täter und die Gesellschaft insgesamt mit dem Aufkeimen antisemitischer Propaganda und Gewalttaten um? 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau hatte die Siegfried-Lehmann-Stiftung zu einem Vortrags- und Diskussionsabend in den Saal der Mariengemeinde eingeladen.
Als Referentin konnte die promovierte Sozialpädagogin von der Universität Hannover und Sprecherin der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, Rebecca Seidler, gewonnen werden. Sie gehört der liberalen jüdischen Gemeinde an und kennt Barsinghausen aus ihrer Zeit bei der Jugendhilfe noch sehr gut. Rund 80 interessierte Teilnehmer konnte die Vorsitzende der Siegfried-Lehmann-Stiftung, Lilli Bischoff, begrüßen. Ihre ehrenamtliche Tätigkeit in der jüdischen Gemeinde sei eigentlich nichts Besonders, denn der ehrenamtliche Einsatz sei fest im Judentum verankert, erklärte Seidler. Schon vor der Shoah habe es in Hannover eine jüdische Einheitsgemeinde mit sehr pluralistischen Strömungen gegeben. Nach dem Holocaust habe es in ganz Deutschland nur 15.000 Überlebende gegeben, für die die Shoah prägend für die eigene Identität gewirkt habe. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks seien dann vermehrt Menschen jüdischen Glaubens nach Deutschland eingewandert, die in die bestehenden Gemeinden, aber auch in die Gesellschaft integriert werden mussten. Eine der großen Errungenschaften der liberalen jüdischen Gemeinde sei in den 90er Jahren eine Reform gewesen, durch die sich Frauen in einem sehr viel stärkeren Maß aktiv in den Gottesdienst und das Gemeindeleben insgesamt einbringen hätten können. Hier sei dann auch vor elf Jahren die erste jüdische Kita in Deutschland eingerichtet worden, durch die zum einen die Kinder in ihrer jüdischen Identität gestärkt und wo gleichzeitig auch Christen und Muslime willkommen geheißen worden seien. Nach der Kindergartenzeit erfolge dann der Besuch einer staatlichen oder privaten Schule. Dies sei ein Moment für die jüdischen Kinder, in dem sie merken würden, dass es hier – anders als in den Einrichtungen der eigenen Gemeinde – keine Sicherheitskameras gebe. Überhaupt seien die jüdischen Kinder von klein auf mit Formen des Antisemitismus konfrontiert. Dieser könne in einer sehr leisen Form oder auch laut und massiv daherkommen. Als typische antisemitische Äußerungen nannte Seidler Sprüche, wie „Es müsse doch mal ein Schlussstrich gezogen werden, immerhin hätten die Juden durch den Holocaust schon genug verdient“. Insgesamt gebe es Formen des Antisemitismus in allen Bildungsschichten, auch an Universitäten. Aus diesen subtilen oder sehr direkten Anfeindungen erwachse dann ein Gefühl des Ausgeschlossen-Seins. Seidler berichtete, wie ihr ein Buch in die Hände gekommen sei, in dem es von den klassischen antijüdischen Klischees nur so gewimmelt habe. Wegen der mehr als eindeutigen Aussagen habe sie den Autor des frei verkäuflichen Buches dann wegen Volksverhetzung angezeigt. Zu ihrer großen Überraschung habe die Staatsanwaltschaft zunächst die Ermittlungen einstellen wollen, woraufhin sie dann die Presse eingeschaltet habe. Wegen ihres Kampfes gegen Antisemitismus habe sie auch schon eine Morddrohung erhalten, die dann in der Folge von einem Gericht mit einer viel zu geringen Strafzahlung geahndet worden sei. Antisemitismus dürfe nicht nur wenige, sondern müsse alle Demokraten stören. „Für die Demokratie und die Grundrechte muss man sich einsetzen“, betonte Seidler. Im Anschluss an den Vortrag hatten die Teilnehmer noch die Gelegenheit, vertiefende Fragen zu stellen und mit Rebecca Seidler ins Gespräch zu kommen.
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