„Der Mensch hinter den Schulden“

Immer mehr Menschen geraten in finanzielle Nöte / Verbände fordern gesetzlichen Anspruch auf Schuldnerberatung

REGION (red). Kurzarbeit, Einkommensverluste, Entlassungen: Seit Beginn der Coronakrise geraten immer mehr Menschen in finanzielle Notlagen. Ver- und Überschuldungen werden zunehmend zum gesamtgesellschaftlichen Phänomen. Studien belegen die vielfältigen positiven Wirkungen von sozialer Schuldnerberatung sowohl für Betroffene und ihre Angehörigen als auch die Gesellschaft. Darauf verweist die Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV) anlässlich der bundesweiten Aktionswoche Schuldnerberatung „Der Mensch hinter den Schulden“ vom 7. bis 11. Juni.  Bei den Überschuldeten zeigen sich diese insbesondere in der Existenzsicherung, der Schuldenregulierung, der nachhaltigen Verbesserung ihrer wirtschaftlichen, beruflichen, familiären, sozialen und gesundheitlichen Situation und der Wiederherstellung ihrer wirtschaftlichen und persönlichen Handlungskompetenz. Die AG SBV fordert daher einen gesetzlichen Rechtsanspruch auf Schuldnerberatung. Auch müssen die bestehenden Angebote weiterentwickelt sowie zusätzliche gemeinnützige Schuldner- und Insolvenzberatungsstellen eingerichtet werden. Schon jetzt seien die Beratungsstellen überlastet und arbeiteten an ihren Kapazitätsgrenzen. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen werde sich diese Situation weiter dramatisch verschärfen. Dieser Trend lässt sich auch bei der AWO, der Caritas und der Diakonie beobachten, die in der Region Hannover insgesamt 14 Schuldnerberatungsstellen betreiben. „Wir haben im Jahr 2020 an unseren drei Standorten in Hannover, Langenhagen und Seelze für insgesamt 602 Ratsuchende eine Schuldenregulierung durchgeführt“, berichtet Philipp Vorwergk, Einrichtungsleiter der Schuldnerberatungsstellen bei der AWO Region Hannover. Davon konnte für 295 Personen eine Schuldenregulierung erfolgreich abgeschlossen werden.

Zudem stellten die AWO Schuldnerberatungsstellen 257 Bescheinigungen für Pfändungsschutzkonten aus. „In fast allen Fällen tragen wir dazu bei, dass die Menschen in der Beratung wieder Zugang zu existenzsichernden Leistungen haben beziehungsweise ihnen der existenzsichernde Anteil vom Einkommen nicht mehr genommen wird“, betont Vorwergk. In den neun Beratungsstellen der Diakonie sind im Jahr 2020 insgesamt 800 Personen in einem längeren Beratungsprozess begleitet worden. Der Trend der vergangenen Jahre verfestigte sich auch im Jahr 2020. „Eine immer stärkere Anforderung an die sozialpädagogische Beratungskompetenz ist erforderlich, hervorgerufen durch Multiproblemlagen bei den Ratsuchenden – immer häufiger kommen psychische Erkrankungen, neben langfristigem Niedrigeinkommen oder langandauernder Arbeitslosigkeit hinzu“, berichtet Bernd Preibisch, Schuldnerberater im Diakonischen Werk Hannover. „Es ist zu erwarten, dass die Nachfrage nach Schuldnerberatung in der kommenden Zeit steigen wird, weil die Verkürzung der Restschuldbefreiungsphase im Insolvenzverfahren auf drei Jahre eine attraktive Entschuldungsmöglichkeit für viele sein kann, ergänzt Elena Veith Schuldner- und Insolvenzberaterin im Diakonieverband Hannover-Land. Außerdem sei auch Corona bedingt mit Mehranfragen zu rechnen. Die Folgen der Pandemieereignisse würden sich langfristig auf die Privathaushalte auswirken. Negative wirtschaftliche Auswirkungen werden jedoch erst zeitversetzt durch die Arbeit der Schuldnerberatungsstellen sichtbar. Zwischen Eintritt der ersten Zahlungsschwierigkeiten und der Kontaktaufnahme zu einer Beratungsstelle vergehen zum Teil einige Jahre.

In den Beratungsstellen der Caritas haben 668 Personen im letzten Jahr um Hilfe gebeten. „Wir konnten 410 davon an unseren Standorten in Hannover, Burgwedel, Isernhagen und Wedemark annehmen und im letzten Jahr 46 außergerichtliche und 32 gerichtliche Schuldenbereinigungsverfahren einleiten“, beschreibt Matthias Wenzel, Leiter der Caritas Schuldnerberatungsstellen, die Zahlen aus 2020. „Die Nachfrage ist auch während der Pandemie gleichbleibend hoch geblieben und wird voraussichtlich in den nächsten Jahren durch die Folgen ansteigen“, betont Wenzel. „Krisen, Probleme und Sorgen der Hilfesuchenden nehmen zu und das bei Menschen aus allen Schichten. Egal ob bei Menschen ohne Arbeit, Geringverdienern oder Selbstständigen. Deshalb braucht es ein Recht auf kostenlose Schuldnerberatung unabhängig von der Lebens- und Einkommenssituation“. Dieses Recht müsse mit einem bedarfsgerechten Ausbau der Beratungsstellen und einer auskömmlichen Finanzierung einhergehen, da sind sich alle drei Träger einig, denn nur so könne verhindert werden, dass sich Menschen, deren Einkommen zum Beispiel knapp über dem Prozesskostenhilfeanspruch liege, sich an kostenpflichtige und kommerziell tätige Schuldnerberatungen und Finanzoptimierer wenden müssten.

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