„Die wollen nicht arbeiten“: Infoveranstaltung der IG Metall Senioren bot Fakten statt Polemik zum Bürgergeld

BARSINGHAUSEN (red).

Immer wieder sind das Bürgergeld und andere Sozialleistungen und vor allem deren Höhe und Anspruchsvoraussetzungen in der Diskussion. Dabei zeichnet die öffentliche Debatte oft ein Zerrbild und diffamiert Menschen, die auf das unterste Sicherungsnetz unseres Sozialstaates angewiesen sind. Das war eine der Feststellungen, die in der Versammlung der Senioren der IG Metall (IGM) in der Region Barsinghausen am Mittwoch vergangener Woche im Naturfreundehaus getroffen wurde. Es sei unseriös, das mit „Die wollen nicht arbeiten“, weil sich „für die die Arbeit nicht lohnt“ und „sie lieber Bürgergeld beziehen“ rumgetönt werde und mit „Bürgergeld kürzen“ (seitens der FDP) und „100.000 Bürgergeld-Empfängern die Leistungen streichen“  (lt. CDU-Generalsekretär Linnemann, der nicht einmal darlegen könne, wie er diese Zahl begründe) eine derartige Stimmung gegen Menschen erfolge, die auf Hilfe des Staates angewiesen sind.

So der Geschäftsführer der Landesarmutskonferenz Niedersachsen, Fabian Steenken, der in der Versammlung zum Thema „Armut in Deutschland“ referierte. Die öffentliche Debatte werde z.T. polemisch und populistisch geführt, z.T. angeheizt, erhitzt und wahlkampforientiert und zeige, dass viel Unkenntnis über Höhe und Anspruchsberechtigung der Sozialleistungen bestehe und oft „nur aus dem Bauch heraus“ argumentiert werde, aber nicht an Fakten orientiert und sachlich. Es sei doch gesetzliche Lage, dass Mitwirkungspflichten von Leistungsempfängern einzuhalten sind und dass z.B. bei einem sogenannten Meldeversäumnis der Regelbedarf um zehn Prozent gekürzt werde, derselbe Satz für einen Monat bei Ablehnung eines zumutbaren Arbeitsangebotes, bei weiterer Ablehnung um 20 Prozent für zwei Monate und in der dritten Stufe 30 Prozent für drei Monate. Die vermeintlichen „Totalverweigerer“ seien eine extrem kleine Gruppe. Gemessen an den Sanktionen gerade mal etwa 16.000 Personen.

In der aufgeheizten (auch Ablenkungs-) Debatte käme viel zu kurz, dass die Armut in Deutschland  sich seit Jahren auf einem hohen Niveau befinde, welche Ursachen dies habe und was politisch an Gegenmaßnahmen unterlassen wurde und werde. 16,8 Prozent der Bevölkerung in Deutschland (in Niedersachsen 17,9 Prozent) lebten derzeit in Armut, so Steenken. Fast zwei Drittel der erwachsenen Armen gingen einer Arbeit nach, erhielten aber nur ein für den Lebensunterhalt unzureichendes Arbeitseinkommen (weil sie nur ein sogenanntes geringfügiges Beschäftigungsverhältnis erlangen oder in Teilzeit arbeiten oder weil ihr Arbeitseinkommen trotz Vollzeittätigkeit nicht reicht, um die Familie durchzubringen) und seien deshalb auf Bürgergeld angewiesen, um hierzulande einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zufolge menschenwürdig und mit gesellschaftlicher Teilhabe leben zu können. Ein Fünftel der Armen seien Kinder. Auch infolge mangelnder gewerkschaftlicher Organisationsbereitschaft der Arbeitnehmer sei die Tarifbindung von Betrieben unzureichend, was  z.T. verminderte Arbeitseinkommen zur Folge habe. Die Herausforderungen der aktuellen Krisen spürten die Schwächsten unserer Gesellschaft am stärksten und müssten gerade deshalb Unterstützung bekommen.

Bürgergeld (z.B. 2023 für einen alleinstehenden Erwachsenen 502 Euro und 563 Euro seit 2024) sei eine Grundsicherung für Arbeitssuchende und habe im Januar 2023 das Arbeitslosengeld II (auch Hartz IV genannt) abgelöst. Anspruch darauf habe, wer erwerbstätig sei und trotz intensiver Bemühungen keinen Arbeitsplatz finde oder die mit ihrer Arbeit nicht genug verdienen, um ihren Lebensunterhalt zu decken und für die vorrangige Leistungen wie Wohngeld oder Kinderzuschlag nicht ausreichen. Auch Personen, die nachweislich nicht arbeiten können (also keine Arbeitsverweigerer sind), die aber mit Bürgergeldberechtigten in einem Haushalt zusammenleben, können Bürgergeld erhalten. Wer Bürgergeld beantrage, müsse dem Jobcenter Angaben zu seiner Lebenslage machen und nachweisen, dass er hilfsbedürftig ist. Anhand dieser Informationen werde geprüft, ob die Voraussetzungen für Bürgergeld erfüllt sind und damit ein rechtlicher Anspruch auf die Leistung besteht.

Es sei ein Mythos, dass zwischen der Höhe des Bürgergeldes und möglichen Arbeitseinkommen nicht genügend Abstand bestehe und deshalb ein Teil der Bürgergeldempfänger nicht arbeitswillig sei.  Für jegliche Konstellation eines Haushalts – ob Single, Alleinerziehende oder Ehepaar mit Kindern – erhalten Haushalte deutlich mehr verfügbares Einkommen, als wenn sie nicht arbeiten. Für z.B. einen Single, der in 2023 zum gesetzlichen Mindestlohn 12,00 Euro/brutto arbeitete, betrug die Differenz 532 Euro im Monat und für Eltern mit zwei Kindern unter sechs Jahren waren es 674 Euro im Monat. Seit 2024 betrage der gesetzliche Mindestlohn 12,41 Euro/brutto. Also ein weiterer Arbeitsanreiz, auch dadurch, dass seit 01.07.23 bei einer Beschäftigung mit einem Einkommen zwischen 520 und 1000 Euro per Anrechnung davon 30 Prozent behalten werden dürfen. Der gesetzliche Mindestlohn sei die absolute Untergrenze für die Bezahlung in Deutschland und solle vor Ausbeutung und Dumpinglöhnen schützen.

Steenken informierte auch über die Sozialhilfe (die auf Antrag vom Sozialamt gezahlt wird), die (anders als beim Bürgergeld) Menschen erhalten, die nicht arbeiten können, also „nicht erwerbsfähig“ sind. Also Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen keiner Arbeit nachgehen können oder die das gesetzliche Rentenalter erreicht haben und Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können und keine oder keine ausreichenden Leistungen aus Versicherungs- oder Versorgungssystemen bekommen. Die Landesarmutskonferenz fordere eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes auf 15 Euro, Einführung eines sozialen Arbeitsmarktes für Langzeitarbeitslose, Einführung einer armutsfesten Kindergrundsicherung und Erhöhung des Regelsatzes der Bürgergeld/Grundsicherung um 200 Euro im Monat. Erich Zirke und Rolf Wittkohl, Sprecher der IGM-Seniorengruppe, luden zum Schluss zur nächsten öffentlichen Versammlung der Seniorengruppe zum Thema „Aktuelle (auch finanzielle) Lage der Krankenversicherung und Krankenversicherungsbeiträge“  mit dem Referenten Dr. Galas von der AOK Niedersachsen am 11. September um 14 Uhr im Naturfreundeheim ein.

Fotos: Erich Zirke / Norbert Knopf