„Erinnern muss auch zur Wachsamkeit mahnen“

Anlässlich des 72. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz gedenkt die Stadt der Opfer des Nationalsozialismus / Neben der Kranzniederlegung erinnert Bürgermeister Marc Lahmann, dass in Deutschland kein Tag ohne rassistische oder gewalttätige Übergriffe auf Flüchtlinge vergeht / Zeitzeugin Henriette Kretz berichtet   

 

BARSINGHAUSEN (ta/red). Zahlreiche Bürger, Schüler sowie Vertreter von Rat und Verwaltung und der Kirchen haben heute zusammen mit Bürgermeister Marc Lahmann und der Zeitzeugin, Henriette Kretz der Opfer des Holocausts gedacht. Zudem legte Lahmann mit Henriette Kretz und dem stellvertretenden Bürgermeister, Karl-Heinz Neddermeier, einen Kranz am Gedenkstein zwischen dem Kloster und dem Rathaus nieder. In seiner Rede fand der Bürgermeister Worte, die sowohl an das Leid der Opfer des nationalsozialistischen Terrors als auch an die Notwendigkeit zur Wachsamkeit gegenüber heutigen rassistischen und nationalistischen Strömungen erinnerten. Er sagte: „Am 27. Januar 1945 befreiten Truppen der sowjetischen Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Die Welt war über die Gräuel, die damals ans Licht kamen, schockiert. Das Verständnis der Menschheit über die Geschichte und über das Ausmaß des Bösen, dessen Menschen fähig sind, ist seit damals ein anderes. Die Ermordung von 1,35 Millionen Juden, 20.000 Sinti und Roma und 100.000 weiteren Insassen, die vom nationalsozialistischen Regime aus rassistischen oder politischen Gründen oder einfach deswegen, weil sie anders waren, verfolgt wurden, markiert einen Zivilisationsbruch. Auschwitz – dieser Name gilt weltweit als Inbegriff eines organisierten Massenmordes. 1,5 Millionen Menschen wurden hier vom nationalsozialistischen Regime ermordet. Neben Auschwitz existierten damals noch sieben weitere Vernichtungslager. Diese Todesfabriken forderten schlussendlich ca. sechs Millionen Menschenleben. Damit die Erinnerung und das Gedenken an diese furchtbaren Ereignisse und Taten nicht verblasst, hat 1996 der damalige und vor wenigen Tagen verstorbene Bundespräsident Roman Herzog den 27. Januar mit den Worten „Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen“ zum nationalen Gedenktag erklärt. Diese eingeforderte Wachsamkeit ist auch heute wieder dringend geboten. Denn auch heute noch werden überall auf der Welt Verbrechen begangen, die ihre Grundlage in der Diskriminierung und Ablehnung von Menschen haben, die eine andere Religion ausüben, aus einem anderen Land kommen, eine andere sexuelle Orientierung haben, andere politische Ansichten verkünden oder einfach nur Ihre eigene Meinung vertreten. Man sollte meinen, dass die Menschheit aus der Schreckensherrschaft des nationalsozialistischen Regimes gelernt hat. Doch dem ist leider nicht so. Durch die Ausübung von Macht durch einzelne Personen oder Organisationen, sowie auch aus Unwissen, Vorurteilen und Ablehnung, werden immer wieder schrecklichste Verbrechen und verabscheuungswürdige Handlungen begangen. Wie gegenwärtig die Gefahr durch Krieg, Vertreibung und den brutalen Terrorismus des Islamischen Staates ist, zeigt sich durch die große Anzahl an Flüchtlingen, die in Europa und insbesondere in Deutschland, Zuflucht suchen. Mittlerweile leben ca. 600 von Ihnen hier unter uns in Barsinghausen. Nur gemeinschaftlich konnte erreicht werden, dass diesen vertriebenen und dadurch hilfsbedürftigen Menschen eine menschenwürdige Unterkunft zur Verfügung gestellt wird und erste Schritte zur Integration durch staatliche Institutionen, aber vor allem auch einzelne Mitbürger oder Initiativen getätigt werden. Den Vereinen, Verbänden, Unternehmen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stadtverwaltung und den Bürgerinnen und Bürgern, seien diese hauptamtlich oder ehrenamtlich organisiert, danke ich an dieser Stelle ausdrücklich und zolle Ihnen Anerkennung und Respekt für das bisher Geleistete. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten. Leider vergeht fast kein Tag, an dem nicht in Deutschland rassistische oder gewalttätige Übergriffe auf Flüchtlinge oder Flüchtlingsunterkünfte erfolgen. Umso nachdenklicher bin ich, dass sich in der vergangenen Woche jener Tag jährte, an dem auch in Barsinghausen ein Brandanschlag auf die damals im Bau befindliche Flüchtlingsunterkunft an der Hannoverschen Straße verübt worden ist. Wir haben diese Unterkunft erneut aufgebaut, sie wird derzeit von Familien und Einzelpersonen verschiedener Nationen im friedlichen Miteinander bewohnt. Ehrenamtliche Initiativen zu deren Betreuung haben sich gefunden und tun beispielhaft Gutes zu deren Integration. Ich kann verstehen, dass Bürgerinnen und Bürger verunsichert sind und Angst haben, ob Deutschland oder wir hier lokal in Barsinghausen diesem Flüchtlingsaufkommen gewachsen sind. Dafür haben sowohl die Mitglieder der demokratisch gewählten Gremien dieser Stadt und ich selbst Verständnis. Wofür kein Verständnis aufgebracht werden kann und wird, sind Brandstiftungen und andere Verbrechen, die aus diesen Motiven erfolgen. Nur durch gemeinsamen Dialog, Respekt und Toleranz voreinander können Vorurteile abgebaut werden, damit solche Verbrechen nie mehr entstehen. Die Welt ist voll von Gedenktagen und jede Opfergruppe erinnert sich bestens an ihre eigenen Tragödien. Doch haben die Erinnerungen je verhindert, dass es zu einer neuen Katastrophe kommt? Alles Gedenken bringt nichts, wenn man nicht auch Lehren zieht. Jeder von uns hat in seiner Familie, im Freundeskreis, auf der Arbeit und im Verein Menschen um sich, die hier in Deutschland oder in anderen Teilen der Welt, Vorurteilen, Diskriminierungen, Verfolgungen und Verbrechen ausgesetzt sind bzw. waren, auf Grund einer vermeintlichen Andersartigkeit. Aber auch eine andere Gruppe nimmt Andersartigkeit als Grund für unzählige menschenverachtende Taten. Der IS und seine Anhänger morden, foltern und unterdrücken allein deshalb, weil andere Menschen nicht an den Islam in dieser falschen Auslegung glauben. Das schreckliche Attentat von Berlin hat diesen Terror jetzt auch nach Deutschland gebracht. Eine Tat, die nur darauf abzielt Tod, Angst und Schrecken zu verbreiten. Nicht fernab auf einem anderen Kontinent oder in einem andern Land, sondern hier im Herzen Deutschlands. Dieses furchtbare Verbrechen sollte uns sensibilisieren, auf uns und unsere Mitmenschen besser zu achten, gleichwohl, dürfen wir uns nicht einschränken lassen, in unserem bisherigen Tun oder Personen ausgrenzen, weil Sie aus dem Kultur- oder Glaubenskreis des Attentäters kommen. Denn wenn wir dies zulassen, hat der IS mit seinem Terror gewonnen. Nur durch gegenseitiges, Kennenlernen, Verständnis und Integration können solche Taten wirksam verhindert werden. Der heutige Gedenktag, welcher das gemeinsame Erinnern und Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus und des Krieges hat, um sie und ihre Leiden vor dem Vergessen zu bewahren, sollte uns auch Anlass dazu geben, den Opfern von Berlin zu gedenken und auf Menschen zuzugehen, um Sie aus ihrer vermeintlichen „Andersartigkeit“ herauszuholen und eine Gleichheit hervorzurufen. Denn im Grunde sind alle Menschen gleich. Auch deshalb steht der Schutz der Menschenrechte ganz am Anfang unserer Verfassung, des Grundgesetzes. Dort heißt es: Die Würde des Menschen ist unantastbar! Ohne Respekt für die Menschenrechte und die Würde des einzelnen Menschen kann kein Land und keine Gesellschaft Fortschritte machen oder sich weiterentwickeln. Dies ist eine Lehre und das Vermächtnis, das die Erinnerung an Auschwitz von Generation zu Generation weiterreicht. Die Gräueltaten durch die Nationalsozialisten wurden durch alliierte Kräfte beendet. Das schwere Leid und die Qualen, die den Menschen zugefügt wurden sind damit noch lange nicht zu Ende. Der große Schmerz und die vielen Wunden an Körper und Seele, die Deutsche anderen zugefügt haben, sind zum Teil bis heute nicht geheilt. Für viele Menschen sind die schrecklichen Erlebnisse der Vergangenheit noch allgegenwärtig und lebendig. Gedenken wir den Opfern aber nicht nur am heutigen Tag, sondern an jedem Tag, so dass das Vermächtnis und die Lehre von Auschwitz unser tagtägliches Handeln und Wirken bestimmen mag, damit solch schreckliche und unvorstellbaren Taten, die im Namen des deutschen Volkes verübt worden sind, sich niemals in unserem lebenswerten Land und in der Welt wiederholen. Wir werden das Geschehene nicht vergessen. Unter den hier Anwesenden begrüße ich mit Ihnen heute auch sehr herzlich eine Zeitzeugin der damaligen Vorgänge und katastrophalen Ereignisse, Frau Henriette Kretz. Aus ihrer Wahlheimat Antwerpen sind Sie in dieser Woche hier in Barsinghausen zu Gast, um uns, aber auch der heranwachsenden Generation, den Schülerinnen und Schülern der Goetheschule und des Hannah-Ahrendt-Gymnasium und auch den Interessierten und Unterstützern der Siegfried-Lehmann-Stiftung aus Ihrem bewegten Leben und Ihren Erfahrungen mit den ideologischen Brandstiftern und Schergen des Nationalsozialismus authentisch zu berichten“, sagte Bürgermeister Marc Lahmann. Anschließend berichtete Henriette Kretz von den schrecklichen Ereignissen und Vorgängen in der Nazi-Diktatur. Sie habe sich eigentlich nicht vorstellen können, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Aber die Menschen, die sie jetzt kennen gelernt habe, zeigten, dass sich das Land verändert habe. Generell sei die Erde ein Ort, auf dem die Menschen in Frieden zusammen leben könnten. Mit Gewalt und Mord zerstöre man hingegen nur, das müssten auch die heutigen Nazis verstehen lernen, so Kretz.

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