Nach 65 Jahren schließt sich der Kreis: Volkswagen und Barsinghausen finden doch zueinander

BARSINGHAUSEN/GROß MUNZEL (red).

„Mit der Entscheidung von Volkswagen, eine Montagehalle für Achssysteme in Groß Munzel bauen zu wollen, schließt sich nach mehr als 65 Jahren der Kreis: Anfang der fünfziger Jahre hatte der Automobilhersteller bereits schon einmal erwogen, in Barsinghausen einen Standort aufzubauen“, blickt Barsinghausens Bürgermeister Henning Schünhof auf die bewegten Zeiten am Ende der Bergbauära zurück. „Mit großen Hoffnungen hatten der damalige Gemeindedirektor Wilhelm Heß und der Gemeinderat das Projekt begleitet und sich dafür stark gemacht, dass Barsinghausen zur ,zweiten Volkswagenstadt‘ wird, wie es eine Zeitung damals ausdrückte“, so der Rathauschef weiter. Daher mache es ihn auch stolz, dass er und sein Vorgänger Marc Lahmann dieses Projekt mit etwas mehr als sechs Jahrzehnten Verspätung zum Abschluss gebracht zu haben. Wie spannend die Vorgänge um die geplante Volkswagen-Ansiedlung auch nach 65 Jahren noch sind, hat Stadtarchivar Gerald Bredemann gemeinsam mit dem Stadtsprecher und Historiker Benjamin Schrader mithilfe zahlreicher Quellen herausgearbeitet. „Es war sehr interessant, in diese Zeit zwischen dem Niedergang des alten Industriezweiges und dem Entstehen neuer Wirtschaftsstrukturen in Barsinghausen abzutauchen“, blicken beide auf die Arbeit zurück. Begonnen hat alles 1954, als der Automobilkonzern seine Pläne vorgestellt habe, ein neues Werk für die Produktion des Transporters bauen zu wollen, berichtet der Stadtsprecher. In der Folgezeit seien potenzielle Standorte gesucht worden, zudem hätten sich auch einige Gemeinden selbst als mögliche neue „VW-Stadt“ ins Spiel gebracht. Mehr als 200 Kommunen hätten sich zeitweise Hoffnung auf die Ansiedlung des neuen Werkes und damit rund 5.000 neue Arbeitsplätze gemacht. Doch in den allermeisten Fällen seien die Träume schnell geplatzt. „Mit Barsinghausen, Burgdorf und dem hannoverschen Stadtteil Stöcken waren Anfang Herbst 1954noch drei Kommunen im Rennen. Auf den Gebieten der verbliebenen Bewerber sind damals bereits konkrete Areale ins Auge gefasst worden“, beschreibt Benjamin Schrader die Vorgänge. Relativ schnell habe sich die Entscheidung dann auf die Landeshauptstadt und Barsinghausen verengt.

„Dass Volkswagen die Bewerberzahl sehr schnell auf die beiden aussichtsreichsten Bewerber reduziert hat, hing auch mit den ehrgeizigen Plänen des Unternehmens zusammen“, ergänzt der Stadtsprecher. Bereits Ende 1955 sollte das neue Werk seine Produktion aufnehmen. „Insofern hatten die Verantwortlichen bei VW bereits sehr konkrete Vorstellungen, welche Anforderungen der künftige Standort erfüllen musste.“ Als Tag der Entscheidung hatten der Aufsichtsrat den 24. November 1954 ins Auge gefasst. Je näher der Termin rückte, desto stärker warben die beiden verbliebenen Bewerber um Unterstützer. „Wir haben in unserem Archiv mehr als 40 Schreiben gefunden, in denen der Gemeindedirektor Wilhelm Heß bei Bundestagsabgeordneten, Gewerkschaftern und dem Deutschen Städtetag um Unterstützung warb“, blickt der Historiker auf seine gemeinsame Recherche mit dem Stadtarchivar zurück. Auch aus den damals verfassten Zeitungsartikeln der Deister-Leine-Zeitung, der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und der Hannoverschen Presse lasse sich erkennen, wie sehr das Thema die Menschen in den beiden Städten elektrisierte. „Beispielsweise erhoffte sich der Barsinghäuser Verkehrsverein von einer Volkswagen-Ansiedlung eine Steigerung des Bekanntheitsgrades der ganz besonderen Art: Damals war das Wappen der Stadt Wolfsburg auf dem Kofferraumdeckel der Käfer angebracht. Der Verkehrsverein hoffte, dass auf den Transportern dann das Barsinghäuser Wappen zu sehen sein würde“, schildert Benjamin Schrader. Doch nicht nur solche etwas fernerliegenden Argumente wurden von den Befürwortern und Fürsprechern Barsinghausens und der Landeshauptstadt für den jeweiligen Bewerber ins Feld geführt. Beispielsweise hatte die damalige Regierungspräsidentin Dorothea Bähnisch Stadtsprecher Benjamin Schrader zufolge beim Preussag-Vorstand angefragt, ob dieser den Schacht IV für eine Nutzung als VW-Produktionsstätte zur Verfügung stellen würde. Damit solle Luftschutzgründen Rechnung getragen werden, argumentierte die Regierungspräsidentin. „Aus heutiger Sicht mutet dieses Ansinnen zwar etwas ungewöhnlich an, damals drohte der Kalte Krieg jedoch immer wieder zu einem heißen zu werden, immerhin war erst ein Jahr zuvor ein Waffenstillstand im Koreakrieg geschlossen worden“, blickt der Stadtsprecher und Historiker zurück. Wirtschaftsminister Hermann Ahrens und Oberkreisdirektor August Steppat verwiesen indessen darauf, dass durch das Ende des Bergbaus in Barsinghausen eine hohe Zahl an Arbeitskräften frei verfügbar sei. Zudem habe die Preussag zusätzlich sich nicht nur gegenüber der von Dorothea Bähnisch angeregten Nutzung der alten Schachtanlagen offengezeigt, „das Unternehmen wollte Volkswagen auch das gesamte Gelände sowie die darauf befindlichen Gebäude und die Betriebswohnungen kostenlos überlassen“, skizziert Benjamin Schrader einige weitere Argumente nach. Am Ende waren insbesondere die Landesregierung um Wirtschaftsminister Hermann Ahrens, die Bezirksregierung und einige Bundestagsabgeordnete aus sozial- und wirtschaftspolitischen Gründen für den neuen VW-Standort am Deister. Die Hannoversche Presse titelte daher am 16. Oktober: „Bund und Land: Barsinghausen wird zweite Volkswagenstadt“. Die Zuversicht war in Barsinghausen nach Einschätzung des Stadtsprechers sehr groß. „Noch am 22. November 1954, also zwei Tage vor der Aufsichtsratssitzung, ließ Hermann Ahrens erkennen, dass sich er massiv für die Ansiedlung am Deister einsetzen wolle“, führt Benjamin Schrader weiter aus. Aufsichtsrat und Geschäftsführung des Automobilherstellers hatten sich jedoch zunehmend auf Hannover-Stöcken als neuen Produktionsstandort fokussiert. Die Verantwortlichen befürchteten, dass die Zahl an Arbeitskräften in Barsinghausen nicht ausreichen würde, um die Nachfrage des Unternehmens zu decken. „Zudem verwies die VW-Spitze auf das Beispiel Wolfsburg. Dort habe anfangs die Zahl der Arbeitskräfte ebenfalls nicht ausgereicht. In der Folge habe es einen so starken Zuzug in die Stadt gegeben, dass sich die Bevölkerung innerhalb weniger Jahre verdoppelt hatte auch mit erheblichen Mehrkosten für das Unternehmen“, nennt der Historiker Argumente der Barsinghausen-Gegner. Zudem hätten der hannoversche Oberbürgermeister und seine Mitstreiter mit der sehr verkehrsgünstigen Lage des ins Auge gefassten Grundstücks geworben. „Außer der unmittelbaren Nähe zur Autobahn 2 und zum Mittellandkanal konnte die Landeshauptstadt auch mit einem Gleisanschluss und bereits verlegten Wasser-, Strom- und Gasleitungen aufwarten“, fährt der Stadtsprecher fort. Teilweise gingen Gemeindedirektor Wilhelm Heß und seine Konkurrenten aus Hannover mit ihrem Werben und Insistieren so weit, dass beispielweise der Deutsche Städtetag zur Zurückhaltung gemahnte. „Insbesondere in den Tagen vor der Aufsichtsratssitzung am 24. November 1954 scheint die Spannung für einige Beteiligte kaum noch zu ertragen gewesen sein, wobei die Zeitungen mit ihren Spekulationen das Klima weiter anheizten“, beschreibt Benjamin Schrader die Stimmung Ende November. Kaum zu ertragen muss daher der Beschluss des Gremiums gewesen sein, die Entscheidung zu vertagen. Hinter den Kulissen ging die Werbung der Barsinghäuser und der hannoverschen Stadtspitze um Unterstützung indessen weiter, und selbst der Bundestag wollte sich auf Antrag der CDU mit den Ansiedlungsplänen auseinandersetzen. Umso größer war dann schließlich die Ernüchterung, als der Volkswagen-Aufsichtsrat sich mit 13 zu zwei Stimmen für die Landeshauptstadt als künftige „zweite Volkswagenstadt“ entschied. „Für das neue VW-Werk wurde nach Angaben der Hannoverschen Presse eine Fläche rund 1,5 Millionen Quadratmetern benötigt, andere Quellen sprechen von 230.000 Quadratmetern. Zudem wurde damals schon über weitere Ausbaustufen debattiert. Allein diese Zahlen machen deutlich, dass sich das Gesicht Barsinghausens und der Landschaft selbst bei dem geringeren Flächenbedarf grundlegend und tiefgreifend gewandelt hätte“, ordnet der Stadtsprecher die damaligen Pläne zur Volkswagenansiedlung in größere Zusammenhänge ein. Auf der anderen Seite stand die Frage, wie es mit den rund 2.300 direkt oder indirekt im Bergbau Beschäftigten weitergehen würde. „Tatsächlich fanden zahleiche ehemalige Bergleute dann eine Anstellung bei VW, nur eben nicht in Barsinghausen, sondern im neuen Werk in Hannover-Stöcken“, erklärt der Stadtsprecher. Stadtarchivar Gerald Bredemann und Benjamin Schrader stießen bei ihren Recherchen sogar auf das Schreiben eines Omnibusbetriebes, der sich um einen Linienverkehr zwischen Deister und dem Stöckener VW-Werk bewarb. Doch nicht nur Volkswagen wurde für viele ehemalige Bergleute zum neuen Arbeitgeber. Wenige Jahre nach dem Ende der Kohleförderung in der Deisterstadt siedelte sich in unmittelbarer Nähe zum Gelände des Schachtes IV beispielsweise ein Werk der Alfred Teves GmbH an. Einige Kilometer entfernt eröffnete der Keksherstellers Bahlsen einen Produktionsstandort.

Fotos: Stadt