„Nun fallen Dogmen, die 30 Jahre lang gegolten haben“
BARSINGHAUSEN (red). Zur Diskussion über die Ergebnisse der Bundestagswahl am 23. Februar hatten die Naturfreunde Barsinghausen den Landesgeschäftsführer Dr. Gregor Kritidis eingeladen. Zu diesem Politischen Forum, das regelmäßig alle zwei Monate aktuelle politische Themen aufgreifen soll, waren auch Naturfreunde aus Springe erschienen, mit denen dieses Format künftig gemeinsam veranstaltet werden soll. Kritidis, der acht Jahre in der Politischen Bildung in Magdeburg tätig war, schlug angesichts des guten Abschneidens der AfD insbesondere in Ostdeutschland einen weiten Bogen zurück bis zum Vereinigungsprozess von 1990. Anstelle der demokratischen Position „Jetzt sind wir alle Bürger eines Landes“ setzte sich die nationale Idee durch, mit einem rasch einsetzenden Desillusionierungsprozess. Die ostdeutsche Wirtschaft wurde, soweit sie nicht schnell geschlossen wurde, zu einer Filialökonomie des Westens in der Globalisierung. Die DDR-Bürger verloren nicht nur vielfach ihre Arbeit, sondern wurden ohne Netz und doppelten Boden in eine Ordnung katapultiert, in der Freiheit vor Sicherheit ging und damit Unsicherheit einkehrte.
Die Hoffnungen auf eine rot-grüne Reformregierung wurden spätestens mit der Hartz-Gesetzgebung enttäuscht und rief gerade in Ostdeutschland starke Proteste hervor. Immerhin brachte die erste Regierung unter Angela Merkel keine weitere Verschärfung neoliberaler Politik, so Kritidis. Die Bankenkrise 2008/2009 wurde durch riesige Inverstitionsprogramme wie die „Abwrackprämie“ abgefedert, allerdings setzte sich der Verschleiß der Daseinsvorsorge ungebremst weiter fort und der Eindruck verfestigte sich, dass „die da oben“ sich „für uns hier unten“ nicht interessieren, dies nun auch zunehmend im Westen. Gegen die immer akuter werdende Klimakrise wurde wenig getan. Die Flucht von 900.000 Syrern nach Deutschland, die Wolfgang Schäuble als „Rendevous mit der Globalisierung“ bezeichnete, führte zu einer verstärkten Polarisierung um die Frage der Migration. Damit begann auch der Aufstieg der AfD, die sich zunehmend einem autoritärren Nationalradikalismus verschreibt. Dieser Aufstieg wurde durch die Anpassungsbewegungen der demokratischen Parteien noch befördert. Nicht umsonst konnte der parlamentarische Geschäftsführer der AfD Baumann in der Debatte um die letzten Gesetzesverschärfungen sagen, dass das, was die Ampel jetzt einbringe, von der AFD seit sieben Jahren gefordert werde. Die Leute wählten dann eben das Original, nicht die Kopie, so Kritidis.
Dazu käme, dass durch die fehlende soziale Abfederung der ökologisch erforderlichen Energiewende auch viele Menschen in eine Opposition gegen Klimaschutz überhaupt getrieben wurden. Bis heute höre man vom Klimageld zur sozialen Abfederung der Belastungen wenig. Im Ergebnis seien die sozialen Hoffnungen der Bürger, nicht nur im Osten, kontinuierlich enttäuscht worden. Deshalb werde das Angebot der AfD, sich als Bestandteil eines mächtigen und „normalen“ Deutschlands als Identifikationsangebot und die Abwehr als fremd markierter, nicht „zu uns“ gehörigen Menschen angenommen. Und nun vollzögen auch die Parteien der künftigen Bundesregierung eine dramatische Wende in der Haushaltspolitik mit Milliarden für Aufrüstung und Infrastruktur. Die Schuldenbremse gelte de facto nicht mehr. „Nun fallen Dogmen, die 30 Jahre lang gegolten haben. Weil der Treiber die konservative CDU unter Merz ist, wird das der AFD neue Wähler, nämlich die Anhänger der alten neoliberalen Politik zuführen“, so Kritidis Prognose.
In der sich anschließenden lebhaften Diskussion ging es um die Frage, ob die Aufrüstung tatsächlich eine bessere Verteidigung Deutschlands bewirken könne. Mehrere Teilnehmer meinten, dass wegen der lahmenden Wirtschaft und dem drohenden Handelskrieg mit den USA einfach eine Rüstungskonjunktur als Ersatz angestrebt werde. Auch wurde bemängelt, dass bis heute keine inhaltliche Debatte geführt werde, was denn Verteidigung in Zeiten atomarer Waffen sein könne und was dafür wirklich benötigt werde. Nach gut zwei Stunden schloss Wilfried Gaum für die Naturfreunde die Debatte mit der Bemerkung, dass Diskussionen wie diese, engagiert, aber ohne Schaum vorm Mund, kontrovers, aber immer um die Sache bemüht, viel zu selten seien und er sich freue, dass dafür bei den Naturfreunden Raum sei. Die nächste Veranstaltung am 15. Mai findet zu dem Thema „Künstliche Intelligenz“ statt, der Ort wird noch bekanntgegeben.“
Foto: Gregor Kritidis