Urwald von Morgen: Landesforsten kartieren Arten- und Lebensraum
REGION (red). Der Wald um den Hohenstein ist etwas Besonderes. Das ausgedehnte Laubwaldgebiet im Süntel beherbergt eine enorme Anzahl seltener Arten und Biotope. Bereits vor 50 Jahren wurden hier zwei kleinere Naturwaldflächen ausgewählt, die zu den ersten ihrer Art in Niedersachsen zählten. Heute ist der Hohenstein mit einer Größe von etwa 1300 ha der größte „Urwald von morgen“ Niedersachsens außerhalb des Nationalparks Harz. Er ist Teil einer 10% der gesamten Landesforsten umfassenden Flächenkulisse, innerhalb derer sich der Wald frei von direktem menschlichem Einfluss entwickeln soll. Lediglich bis Ende 2022 werden noch einige wenige Erstinstandsetzungsmaßnahmen durchgeführt, um einen möglichst naturnahen Grundzustand des Waldes zu erhalten. Danach entfallen lenkende Maßnahmen und Naturwaldforschung, Umweltbildung und ruhige Erholung bilden die Schwerpunkte im Hohenstein. Biotopkartiererin Heike Schurig aus dem Forstplanungsamt der Landesforsten in Wolfenbüttel ist bereits seit drei Jahren regelmäßig im Hohenstein unterwegs, um Lebensräume, Tier- und Pflanzenarten zu kartieren: „Die von mir durchgeführte Erfassung ist die erste Aufnahme seit der großflächigen Ausweisung als Naturwald. Meine Aufnahmen bilden die Grundlage für spätere Vergleiche. So können wir feststellen, ob sich der Zustand der kartierten Lebensräume verändert und können schauen, ob sich einzelne Arten ausbreiten oder ggf. auch verschwinden“, so die Försterin.
Außerhalb der 10% der Urwälder von morgen findet im zehnjährigen Turnus die sogenannte Forsteinrichtung statt: Mittels verschiedener Mess- und Gutachtenverfahren wird der Zustand des Waldes erhoben. Augenmerk liegt hierbei auf dem Erfolg der Pflege der vergangen 10 Jahre und auf der Planung der kommenden. Wie viel Holz fällt bei der Waldpflege an? Wie viel Holz ist erntereif? Müssen Baumarten gepflanzt werden? Damit ist die Forsteinrichtung auch Garant für die Nachhaltigkeit der Waldnutzung und wichtiges Werkzeug zur Umsetzung des „Programms zur langfristigen ökologischen Waldentwicklung“ der Landesforsten. Doch Im Urwald am Hohenstein ist der Zuwachs an Holz kaum noch von Interesse und eine Planung über die Holzernte erübrigt sich auch. Stattdessen erfährt der Hohenstein eine Biotopkartierung und Lebensraumtypenerfassung als Grundlage eines Naturschutzplans. Die Forsteinrichtung erfasst nur noch einfache Zustandsdaten, um z. B. den Holzvorrat oder Verschiebungen in der Baumartenverteilung zu dokumentieren. „In der Fauna-Flora-Habitat Richtlinie sind verschiedenste Tier- und Pflanzenarten aber auch Lebensraumtypen genannt. Für die Erhaltung solcher Lebensräume und Arten werden Schutzgebiete wie der Hohenstein ausgewiesen. Der hier hauptsächlich vertretene Lebensraumtyp ist der Waldmeister-Buchenwald. Kennzeichnende Arten sind neben der Buche und dem Waldmeister beispielsweise Wald-Bingelkraut, Bärlauch, Perlgras oder das Gelbe Buschwindröschen“, erklärt Schurig.
Neben den Arten sind auch die Strukturen des Waldgebietes ausschlaggebend für den Erhaltungsgrad: „Ein hoher Anteil an stehendem und liegendem Totholz ist wichtig für das Vorkommen vieler Organismen. Das stehende Totholz bietet zudem Platz für Spechte, Käfer oder auch Fledermäuse, von denen wir 12 verschiedene Arten hier im Hohenstein zählen. Die Stürme vergangener Jahre haben den Anteil an Totholz erhöht und so zur Struktur der Wälder beigetragen. Dort, wo die Bäume geworfen wurden, dringt nun Licht an den Boden und neue Pflanzen können wachsen. Was im Wirtschaftswald eine Katastrophe ist, fördert hier die natürlichen Prozesse und ich bin gespannt, wo die Reise hingeht“, führt Schurig aus. Das Arteninventar und die Naturnähe des gesamten Hohensteins ist enorm. Der Hirschzungenfarn in den Schluchtwaldbereichen, das Westfälische Brillenschötchen an den Klippen des Hohensteins oder die Kleine Felskresse sind nur wenige Vertreter der botanischen Raritäten.
„Der Hohenstein ist ein Naturjuwel und einzigartig. Die unzähligen Frühblüher im Frühjahr und der gerade blühende Bärlauch sind herrlich anzusehen. Man hört keine Maschinen, keine Motorsäge und kann den Wald mit allen Sinnen genießen. Der Freizeitdruck ist allerdings enorm und das Wegegebot wird leider oft missachtet. Die Trittschäden an der Vegetation sind teils enorm: Sperrungen zum Schutz seltener Tierarten werden abgerissen und ignoriert und teilweise trifft man bequeme Besucher mit dem Auto mitten im Wald an. Hier muss sich das Bewusstsein der Waldbesucher verändern“, schließt Heike Schurig ab. „Wir freuen uns sehr, dass viele Menschen dieses tolle Gebiet schätzen und hier Erholung suchen. Es ist aber nicht ganz einfach, den Schutz der Natur und die vielen Erholungssuchenden unter einen Hut zu bringen. Daher bitten wir alle Waldbesucher auf den ausgewiesenen Wanderwegen zu bleiben und sich rücksichtsvoll im Sinne der Natur zu verhalten“, so Heiko Brede, Naturschutzförster bei den Landesforsten.
Fotos: Niedersächsische Landesforsten (1) / ta (8)