Neujahrsempfang des NFV: Andreas Rettig und Mads Buttgereit sind die Stargäste in Barsinghausen

„Nagelsmann ist ein Siegertyp. Er will gewinnen um jeden Preis“

Sky-Moderator Oliver Seidler (rechts) interviewte (von links) NFV-Präsident Ralph-Uwe Schaffert, Mads Butgereit und Andreas Rettig.

BARSINGHAUSEN (red). Als Florian Wirtz sich im Länderspiel gegen Bosnien-Herzegowina 25,5 Meter vor dem gegnerischen Tor den Ball in halblinker Position zurechtlegte, war die Wahrscheinlichkeit eher gering, dass der Leverkusener Jungstar gleich sein erstes Freistoßtor als Fußballprofi erzielen wird. „Ein direkter Freistoß von dieser Position, hat eine Torwahrscheinlichkeit von sieben Prozent. Ohnehin gehen nur ein Drittel aller direkten Freistöße aufs Tor und nur jeder 14. Schuss ist drin“, sagt hierzu Mads Buttgereit. Seit 2021 gehört der 39-Jährige als Co-Trainer Standards zum Trainerteam der deutschen Männer-Nationalmannschaft. Auf dem diesjährigen Krombacher Neujahrsempfang des NFV gab Buttgereit Einblicke in seine Arbeit. „Unsere Nationalmannschaft ist keine Mannschaft, die sich über Standards definiert. Das heißt aber nicht, dass wir bei den Standards nicht saugiftig sein können“, sagte Buttgereit und berichtete über das Tor von Wirtz, dass dieser noch am Vortag vor allem die Schusstechnik geübt hätte. Denn mit bogenförmigen Curvebällen, mit denen sich David Beckham einst den Ruf eines Freistoßgenies erwarb, ist heute nicht mehr viel zu gewinnen. „Die Mauern springen inzwischen höher und die Torhüter sind bei weitem besser geworden. Um erfolgreich zu sein, musst Du einen Topspinball spielen“, sagte Buttgereit und sezierte den Schuss, mit dem Wirtz in der 50. Minute das 4:0 erzielte. „Eigentlich ist es ja kein sauberer Topspin, sondern mehr ein Flatterball, der erst nach links abdriftet und sich dann nach rechts dreht.“ Dass Bosniens Keeper Nikola Vasilj, der in der Bundesliga für St. Pauli spielt, dabei nicht wirklich gut aussah, räumte Buttgereit ein, warb als ehemaliger Torwart aber um Verständnis. „Wenn da keiner Mauer steht, hält jeder Bundesliga-Torwart diesen Ball. Eigentlich haben die Torhüter durch die Mauer schlechtere Bedingungen.“ Hierzu präsentierte er auf der Leinwand die rote Linie, die das Sichtfeld des Torwarts zeigt und ging auf die ausgesprochen kurze Reaktionszeit ein, die Vasilj verblieb, nachdem er den Ball gesehen hatte.

Mit dem gut 15-minütigen von Video-Sequenzen unterlegten Vortrag von Buttgereit, der anschließend auch als Talkgast zur Verfügung stand, begann ein Abend, zu dem der Niedersächsische Fußballverband gut 180 Gäste im traditionsreichen Zechensaal des Besucherbergwerks Barsinghausen begrüßen durfte. Aus dem Bereich des Fußballs waren der Einladung unter anderem die Präsidenten von Werder Bremen (Dr. Hubertus Hess-Grunewald), Eintracht Braunschweig (Nicole Kumpis) und dem VfL Osnabrück (Holger Elixmann), von Hannover 96 Martin Kind und Sportdirektor Marcus Mann sowie die niedersächsischen Eliteschiedsrichter Dr. Arne Aarnink, Dr. Riem Hussein, Harm Osmers und Frank Willenborg gefolgt. „Wir werten dieses Interesse als Wertschätzung für das Veranstaltungsformat und den Veranstaltungsort, aber natürlich auch für unsere Stargäste“, sagte NFV-Präsident Ralph-Uwe Schaffert in seiner Begrüßung.

Neben Buttgereit nahm DFB-Sportgeschäftsführer Andreas Rettig diese Rolle ein. Ein Mann der klaren Worte, der in Barsinghausen zunächst aber mit humorvollen Sticheleien unterhielt. Als Buttgereit davon erzählte, dass der Fokus seiner Arbeit derzeit auf der Vorbereitung für das Nations League-Viertelfinale gegen Italien (20. und 23. März) liegt, merkte Rettig augenzwinkernd an. „Wir haben nur eine realistische Chance, wenn unsere Standard-Quote besser wird. Bei zuletzt 18 Fehlversuchen, lieber Mads, sollten wir schon gucken, was wir noch optimieren können.“ Daraufhin entgegnete Buttgereit, „dass wir bei den letzten drei Spielen jeweils ein Standardtor geschossen haben.“ Auch gegenüber Ralph-Uwe Schaffert blühte Rettigs Flachs. „Als ich im September 2023 beim DFB angefangen habe, hast Du in einem Interview über Kimmich und Gündogan gesagt, dass sie die Ärmel aufkrempeln sollen. Ich hab‘ mir die Bilder noch mal angeschaut. Die haben damals alle in Kurzarmtrikots gespielt. Das ist dann schwierig mit dem Aufkrempeln der Ärmel.“ Die Berufung Rettigs zum DFB-Geschäftsführer Sport hatte seinerzeit für Aufsehen und Verwunderung gesorgt, da der ehemalige Bundesliga-Manager (1. FC Köln, FC Augsburg, FC St. Pauli) als einer der schärfsten Kritiker des Deutschen Fußball-Bundes galt. Nur allzu gerne legte er sich mit dem Establishment an. Als er vor einigen Jahren forderte, die von der „50+1“-Regel befreiten Vereine, also Wolfsburg, Hoffenheim und Bayer Leverkusen, von der Verteilung der TV-Gelder auszuschließen, bezeichnete der damalige Bayer-Sportchef Rudi Völler den Vorschlag als populistisch und sagte: „Das ist ein typischer Rettig. Er macht ein bisschen auf Schweinchen Schlau“. Inzwischen sitzen beide gemeinsam im (DFB-)Boot, wobei Rettig in seiner Geschäftsführungsposition formal dem Sportdirektor Völler vorgestellt ist. In Barsinghasen beim Neujahrsempfang sagte Rettig: „Ich habe mir immer Spieler wie Rudi Völler gewünscht. Das ist jemand, in dem man sich in An- und Abführung verlieben kann. Aber leider, wie wir das vom Lied her kennen, gibt es nur einen Rudi Völler.“ Gemeinsam mit dem neuen Bundestrainer Julian Nagelsmann haben Rettig und Völler die Nationalmannschaft, die bei Rettigs Amtsantritt neun Monate vor der Heim-EM als großer Sorgenfall galt, wieder auf Kurs gebracht. Und das nicht nur sportlich. „Ich habe damals oft genug öffentlich Kritik geäußert. Das Thema Nationalmannschaft war mir zu abgehoben. Sie lebte zu sehr in einer Blase, war nicht besonders bodenständig und hat die Menschen nicht mehr erreicht.“ Deshalb habe man beim ersten Gespräch mit der Mannschaft die Heimatvereine der Spieler aufschreiben lassen. „Zu verinnerlichen, wo komme ich her, war ein ganz wichtiges Instrument. Wir wollten ein Bewusstsein dafür schaffen, dass wir alle eben auch mal klein angefangen haben. Diese Mannschaft lebt das.“

Großen Wert legt Andreas Rettig auf Authentizität. „Ich sage immer zu den Spielern: „Wenn ihr Interviews gebt, dann bitte nicht im ‚Marketingsprech‘. Ich mag auch dieses glatt gebügelte nicht. Und wenn dann mal ein Interview verrutscht, dann ist es halt so.“ Dass der Aufschwung des deutschen Teams im Wesentlichen einen Namen trägt, nämlich den von Julian Nagelsmann, darüber waren sich alle Teilnehmer der von Sky-Moderator Oliver Seidler charmant geleiteten Talkrunde einig. „Wenn ich auf den Markt gucke, dann sehe ich: Es gibt mehr Nachfrage an Topleuten als es Topleute gibt. Wir haben den besten Trainer, den wir kriegen konnten, unter Vertrag. Das gibt uns Planungssicherheit und auch eine gewisse Ruhe“, erklärte Rettig.

Mads Buttgereit sagte über Nagelsmann: „Julian ist unser Kopf und sehr klar in dem, was er will und was er von dir erwartet. Eine seiner wichtigsten Eigenschaften ist für mich, dass er ein Siegertyp ist. Er will gewinnen um jeden Preis. Julian hat das gesamte Paket, was einen Toptrainer ausmacht.“ Seinen Vertrag bereits jetzt bis 2028 zu verlängern, bezeichnete Ralph-Uwe Schaffert, der als DFB-Vize und Aufsichtsrats-Mitglied in die Entscheidung mit eingebunden war, als goldrichtig. „Er ist ein Trainer, der begeistern kann und der die Menschen erreicht im Land.“ Man habe eine Vertragsgestaltung gefunden, die für beide Seiten eine Win-win-situation darstelle und bei der der Fehler vermieden wurde, „der bei den Vorgängern von Julian Nagelsmann ja dazu geführt hat, dass man teilweise sehr lange an ihnen festgehalten hat, weil sie sogenannte Rentenverträge hatten.“ Klare Worte fand Andreas Rettig zur Klub-WM, die vom 14. Juni bis zum 13. Juli erstmals mit 32 Teams ausgetragen wird. Aus Deutschland sind Bayern München und Borussia Dortmund bei dem Turnier in den USA dabei. „Ich habe kein Verständnis dafür. Es nutzt nicht der Gesundheit der Spieler, noch mal schnell um die Welt zu fliegen und die Spieler in die Belastung zu jagen, wo Ruhepausen angesagt wären.“ Allerdings räumte er ein, dass in dieser Frage unterschiedliche Interessen und Sichtweisen aufeinandertreffen. „Da wird ne‘ Mörderkohle bezahlt für Antrittsprämien. Da verstehe ich die Entscheidungsträger in Dortmund und München.“ Sehr deutlich wurde Rettig zur Situation des deutschen Schulsports, die er als „desaströs“ bezeichnete. „Unsere Kinder können keinen Purzelbaum mehr machen, ohne dass sie Kopfschmerzen haben.“ Da sein Verband sich nicht nur beklagen, sondern „ins Machen kommen wollte“, sei der DFB mit dem Fußball-Verband Mittelrhein, der Sporthochschule Köln und dem Bund Deutscher Fußball-Lehrer eine Netzwerkpartnerschaft eingegangen. „Wir haben Tausende von Fußballlehrern und lizensierten Trainern, viele davon ohne Beschäftigung. Diese schicken wir jetzt in die Schulen, um zusätzlichen Sportunterricht anzubieten.“ In diesem Zusammenhang betonte der 61-Jährige, nicht nur für den Fußball, sondern für den gesamten Sport zu sprechen. „Ob die Kinder dann Fußball spielen oder andere Sportarten machen, spielt keine Rolle. Die sollen sich bewegen!“ Seit bald vier Jahrzehnten ist der gebürtige Leverkusener im Fußball tätig, unter anderem auch als Geschäftsführer der Deutschen Fußball Liga. Bei der Einführung der Nachwuchsleistungszentren wirkte er als Kommissionsvorsitzender. Hier habe man verpasst, den Hebel umzulegen. Rettig: „Wir haben viele Jahre die Philosophie eines Leistungszentrums falsch verstanden, indem wir gesagt haben, wir müssen den Jugendlichen alles abnehmen. Wir haben denen auf gut Deutsch die Unterhosen gebügelt und sie so nicht auf das Leben vorbereitet. Das war falsch verstandener Professionalismus.“ Ein klares Bekenntnis legte er zur dualen Ausbildung ab. „Es kann nicht reichen, dass wir den Jugendlichen den Passweg von A nach B beibringen, sondern sie müssen eine Ausbildung machen.“ Als „Gift“ bezeichnete er es, die Kinder zu früh aus ihrem heimatlichen Umfeld rauszuholen. „Das ist doch ‚Balla-Balla‘, wenn ich Zehnjährige zwei Stunden von A nach B fahre, nur damit sie bei einem größeren Verein spielen.“ Vor diesem Hintergrund sprach Rettig die Dropout-Quote an. „Wenn diese Spieler es nach drei, vier Jahren nicht geschafft haben, gelten sie als gescheiterte Spieler. Die kehren zurück in ihren Heimatverein und dann wissen wir, was passiert. Es heißt: ‚Das ist doch der, der es nicht geschafft hat. So verlieren wir Kinder und Jugendliche.“ Deswegen müsse die Qualität der Übungsleiter und Trainer auch in der Breite gesteigert werden, damit „die Kinder erst gar nicht den Wunsch haben, die zwei Stunden im Auto von A nach B zu verbringen.“ Zur Dropout-Quote bezog auch Ralph-Uwe Schaffert deutlich Stellung. „Wenn wir uns mal das Schicksal der Jungen und jetzt vermehrt auch der Mädchen in den Nachwuchsleistungszentren anschauen, wer da ausgesiebt wird, dann ist das eine nicht unerhebliche Zahl. Daran zu arbeiten, dass diese Jungen und Mädchen aufgefangen werden und dem Fußballsport nicht verloren gehen, ist eine ganz, ganz wichtige Aufgabe.“

Gefragt, wo es in der Zusammenarbeit zwischen dem DFB und seinen Landesverbänden noch Steigerungspotenzial gibt, antwortete Schaffert: „Auf dem Gebiet der Talentförderung. Wir sehen, dass diese vorrangig in den Nachwuchsleistungszentren der Profivereine stattfindet. Die machen da einen tollen Job, keine Frage. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir neben diesen Zentren, 57 sind es im männlichen Bereich, fast 25.000 Vereine haben, in denen überwiegend ebenso gute Nachwuchsarbeit geleistet wird.“ Im Fußball gehe es auch immer wieder über den sogenannten zweiten Bildungsweg. „Wir haben eine nicht unerhebliche Anzahl von Nationalspielern, die nicht aus einem Nachwuchsleistungszentrum kommen. Deshalb dürfen wir die Talentförderung nicht aus der Hand geben. Sie ist ein wesentlicher Teil der Arbeit der Landesverbände und muss es auch in Zukunft bleiben.“ Hinsichtlich des anstehenden Viertelfinales in der Nations League malte Schaffert in Optimismus: „Ich bin überzeugt davon, dass wir gegen Italien die Endrunde erreichen und ich bin auch guter Hoffnung, dass Anfang Juni der Sieger in diesem Wettbewerb Deutschland heißen wird.“ Darauf hofft auch Mads Buttgereit, dem als Sohn einer Dänin und eines Deutschen beide Länder vertraut sind. „Wie kann es sein, dass ein Land wie Dänemark mit knapp sechs Millionen Einwohnern viermal hintereinander die Handball-WM gewinnt und im Fußball bei der EM 2021 das Halbfinale erreicht? Wie kann es sein, dass Deutschland mit seinen 85 Millionen Einwohnern nicht bei weitem besser ist?“, fragte der frisch gebackene Fußball-Lehrer. Die Antwort liegt für ihn auf der Hand: „Wenn du in Dänemark in irgendein Kaff hineinfährst, und mag es ein noch so kleines Dorf sein, dann findest du dort einen frei zugänglichen Kunstrasenplatz und eine offene Halle.“ Als er noch in Dänemark wohnte, sei er zehn Minuten mit dem Auto gefahren und hätte in dieser Zeit sechs bis acht Plätze erreicht, auf denen Minitore, Siebenmetertore, Neunmetertore und Elfmetertore stehen. „Alles ist offen, alles ist frei. Da entwickelst du dich als Talent, weil du dort auf die Stunden kommst, die du brauchst.“ Und in Deutschland? Mittlerweile lebe er mit seiner Familie (zwei Töchter, ein Sohn) in Flensburg, nur fünf Minuten entfernt von seinem Heimatklub IF Stjernen, einem Verein der dänischen Minderheit. „Wir haben auch einen Kunstrasenplatz. Aber da ist ein fünf Meter hoher Zaun drum“…

Fotos: NFV