Niedersächsische Musiktage: Faltenradio & Daumenkino

Die Wanderung zwischen den musikalischen Welten findet am Donnerstag, 15. September, 19.30 Uhr, im Zechensaal statt / Interview mit dem Künstler Volker Gerling

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BARSINGHAUSEN (red). Sie brennen für ihre Kunst und sind dafür leidenschaftlich unterwegs: Auf seinen Wanderschaften fotografiert Volker Gerling Menschen – und gestaltet aus ihren Bildern Daumenkinos, jedes von ihnen ein Kleinod. Preziosen ganz anderer Art sammeln die Musiker von Faltenradio: Sie wandern zwischen musikalischen Welten und fügen überschäumend Volksmusik an Klassik, Klezmer und Jazz. Leidenschaft für Musik trifft auf Leidenschaft für Bilder. Die Musiker des Ensembles Faltenradio entlocken ihren Klarinetten wunderbare, warme Töne, ausdrucksstark und melodiös zugleich. Faltenradio hat einen eigenen Ton gefunden: jung, überraschend und virtuos. Matthias Schorn, Alexander Neubauer, Alexander Maurer und Stefan Prommegger sind u. a. Solisten der Wiener Philharmoniker und der Wiener Symphoniker, lehren in Wien, Linz und Salzburg und haben sich im Ensemble den Klangmöglichkeiten ihres Instruments verschrieben. Faltenradio trifft in diesem Konzert auf Geschichten von Menschen, deren Leben sich für einen Moment kreuzten und fotografisch festgehalten wurden. Volker Gerling hat sich vor Jahren auf fotografische Daumenkinos spezialisiert, auf diese kleinen Wunderteile, die beim Durchblättern eine Geschichte entfalten. Mit einem Bauchladen, auf dem seine fotografischen Daumenkinos liegen, geht Volker Gerling regelmäßig auf Wanderschaft. Aus einigen der vielen Begegnungen längs des Weges entstehen wiederum neue Daumenkinos, die Volker Gerling in seinem Bühnenprogramm zeigt.

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Volker Gerling unternimmt seit dem Jahr 2002 Wanderschaften, auf denen er Menschen fotografiert und aus diesen Aufnahmen Daumenkinos erschafft. Über 3500 Kilometer hat er inzwischen zurückgelegt. Seit 2005 zeigt er ausgewählte Daumenkinos in abendfüllenden Programmen: Er erzählt über die Menschen, die er porträtierten durfte und über seine Gedanken zur Fotografie, zum Reisen und zum Leben. Demnächst tritt Volker Gerling im Rahmen der Niedersächsischen Musiktage in Barsinghausen auf. Was es mit dem
Daumenkino auf sich hat, erzählt Volker Gerling im Interview mit Ulrike Brenning.
– Wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, „Daumenkinographie“ zu machen?
„Während meines Studiums an der Filmhochschule in Babelsberg sah ich einen Dokumentarfilm, in dem ehemalige Bühnenkünstler porträtiert werden. In einer Szene blättert eine der Protagonistinnen, eine hochbetagte Dame um die 90, in einem fotografischen Daumenkino. Es zeigt ein Porträt von ihr als junger Frau. Es faszinierte mich zu sehen, wie die alte Frau sich nach Jahrzehnten selbst begegnete. In ihren eigenen Händen, die inzwischen mit Altersflecken übersät waren, wurde sie wieder so jung und lebendig wie zur Zeit der Aufnahme selbst. Es war die aufregendste Form einer Zeitreise, die ich jemals gesehen hatte. Ich war so elektrisiert wie selten zuvor in meinem Leben, denn ich ahnte, dass ich dem Medium begegnet war, das mir am ehesten entsprechen würde.“
– Wie haben Sie dieses Medium zu Ihrer eigenen, persönlichen Ausdrucksform gemacht?
„Das Daumenkino wurden bereits 1868 patentiert. Ich glaube jedoch, dass es ein neuer Ansatz ist, mit Daumenkinos auf Wanderschaft zu gehen und dabei Menschen zu porträtieren, wie ich es seit Jahren mache. Meine Porträtierten ahnen meist nicht, dass ich sie nicht nur einmal oder zweimal fotografiere, sondern dass ich innerhalb von 12 Sekunden einen ganzen Film belichten werde. Meine auslösende Kamera zwingt sie, ihre Posen aufzugeben, die sie bewusst oder unbewusst eingenommen haben, als sich meine Kamera auf sie richtete. Die Gesten und Emotionen der Porträtierten entstehen so aus dem Moment, dem Augenblick und haben die Kraft einer unmittelbaren Wahrhaftigkeit. Diese Momente, in denen sich im wahrsten Sinne des Wortes der Charakter von Menschen entblätterte, sind der Kern meiner Arbeit.“

– Wie sind die Reaktionen von den Menschen, die Sie auf diese besondere Weise porträtieren?
„All das, was man täglich dutzendfach beobachten kann, bekommt im Daumenkino eine ungeahnte Kraft: Blicke, die sich verengen, ein Lächeln, das zu einem Lachen wird. Das Zucken um einen Mundwinkel, eine Augenbraue, die sich fast unmerklich hebt. Dank der Daumenkinographie halte ich ein Werkzeug in Händen, welches es mir ermöglichte, das zu beschreiben, was ich schon immer am Aufregendsten fand: das Kaleidoskop menschlicher Ausdrücke, Stimmungen, Gesten und Emotionen. Aber vor allem: das Kaleidoskop menschlicher Blicke. Denn schon immer waren sie es, die auf mich eine besondere Faszination ausübten und mich magisch anzogen.“
– Steht die Daumenkinographie in einer filmischen Tradition?
„Ich bewege mich auf meinen Wanderschaften ausschließlich zu Fuß und spiele damit auf die Tradition der ehemaligen Wanderkinoschausteller an – meine Wanderschaft ist somit auch eine Reminiszenz an die Zeit, als der Film noch nicht sesshaft war und es keine festen Lichtspieltheater gab. In der von mir gewählten Form des Wanderkinos treffen sich überdies die Rezeption meiner Filme und meine Art zu reisen in Bezug auf Rhythmus und Zeitgestaltung. Denn im gleichen Maße, wie jeder Besucher das Daumenkino mit seinem individuellen Tempo anschaut, unterliegt auch das Wandern meinem Eigenrhythmus und damit meiner mir eigenen Geschwindigkeit.“

– Auf mich wirkt diese künstlerische Ausdrucksform sehr schön und poetisch. Wie findet eine solche Form ihren Platz in unserer sehr rational bestimmten Welt?
„Es erstaunt mich immer wieder, wie beseelt die Menschen sind, wenn ich von meinen Wanderschaften erzähle und sie einlade, die Leerstellen zwischen den einzelnen Bildern der Daumenkinos mit den Bruchstücken der Geschichten der Menschen zu füllen, die mir erlaubten, sie zu fotografieren. Offensichtlich stillt meine Arbeitsweise in hohem Maße das Bedürfnis nach Entschleunigung in einer sich scheinbar immer schneller drehenden und medial in Echtzeit aufgearbeiteten Welt.“

Konzerttermin: Do 15.09., 19.30 Uhr, Zechensaal Barsinghausen
Programm: nach Ansage / Eintrittspreise: 12 – 20 Euro
Karten: 0800/45 66 54 00 (kostenfrei aus dem deutschen Festnetz)
www.musiktage.de
alle Vorverkaufsstellen von CC & Co. – Barsinghausen
Partner:
Stadtsparkasse Barsinghausen
Calenberger Cultour & Co. e.V.

Pressefoto Volker Gerling.002

Foto: privat