Was Rehe so anpassungsfähig und erfolgreich macht

NIEDERSACHSEN/REGION (red).

Capreolus capreolus ist ein echtes Erfolgsmodell – sozusagen der VW-Käfer unter der Gattung der Hirschartigen. Denn während Rotwild erst vor rund zehn Millionen Jahre entstanden ist, tauchte das Reh bereits vor etwa 25 Millionen Jahren auf. Das Reh ist also der Prototyp und das Vorläufermodell der Hirsche. Zwar ist das Reh wie Rot- und Damwild Teil der Hirsch-Familie, es unterscheidet sich ökologisch aber stark von diesen. Der nächste Verwandte ist der Elch. Während die „echten“ Hirsche das ganze Jahr über vorwiegend in Rudeln zusammenleben und eher an das Leben in der baumlosen und weiträumigen Steppe angepasst sind, sind Rehe Wald- und Buschtiere und leben meist als einzeln. Nur während der Wintermonate finden sie sich in größeren Gruppen – von den Jägern Sprüngen genannt – zusammen. Die Deutsche Wildtier Stiftung hatte das Reh zum Wildtier des Jahres 2019 gekürt. Mit der Wahl sollte auf Konflikte mit der Land- und Forstwirtschaft hingewiesen werden. Die Geburt der Rehkitze im Mai fällt in denselben Monat, in dem viele Landwirte ihre Wiesen mähen. Das Reh ist ein klassischer Kulturfolger. Sein großer Vorteil ist seine Flexibilität. Ursprünglich besiedelte es dichte Wälder und dieser Lebensraum entspricht auch dem Körperbau. Das Reh hat einen schmalen Brustkorb und die Hinterläufe sind größer und kräftiger ausgebildet als die Vorderläufe. Durch diese Keilform kann es gut im hohen Gras oder im dichten Unterholz einschlüpfen und sich dort lautlos bewegen. Das Reh ist ein Kurzstreckenrenner, aber dafür anpassungsfähig.

Vom Wald ins freie Feld: Mittlerweile besiedelt es alle Vegetationsformen von der offenen Feldflur, über strukturreiche Heckenlandschaften bis zu geschlossenen Waldgebieten. Ideal ist ein hoher Waldrandanteil. Einige Wildbiologen glauben auch, dass die vermehrten Stickstoffeinträge aus der Landwirtschaft das Rehwild begünstigen. Denn dadurch wird die Produktivität der Standorte erhöht und es wachsen vermehrt die bei den Rehen beliebten stickstoffhaltigen Pflanzen.

Winterpause im Mutterleib: Aber es gibt noch einen anderen Vorteil, den Rehe besitzen: die verlängerte Keimruhe. Die weiblichen Rehe – die auch Ricken oder Geißen genannt werden – werden im Juli befruchtet, doch das Ei wächst nicht heran. Erst Ende November beginnt die embryonale Entwicklung. Dadurch werden die Kitze pünktlich im warmen und vegetationsreichen Mai geboren, wenn die jungen Tiere, die besten Überlebenschancen haben. Der größte Erfolg des Rehwildes ist aber nach wie vor der niedliche Bambi-Effekt. Er basiert auf dem Kindchenschema: Große Augen, kleine Stupsnase. Tiere, die diesem Schema entsprechen – etwa Kaninchen, Hundewelpen oder Seerobben –, werden in weiten Teilen der Öffentlichkeit als süß, niedlich und unschuldig angesehen.

Text: Frank Griesel / Fotos: ta