„Die Situation der Wiesenvögel in Niedersachsen ist schlicht katastrophal“

Ausgedünnt, zusammengebrochen, lokal ausgestorben

Kiebitz – Foto: Frank Derer

NIEDERSACHSEN/REGION (red). Wann haben Sie zuletzt eine Uferschnepfe, einen Brachvogel oder einen balzenden Kiebitz im Frühjahr gesehen? Früher war diese Frage in Bezug auf den Kiebitz einfach zu beantworten. Der beliebte Frühjahrsbote war in Niedersachsen fast flächendeckend verbreitet. Heute fällt die Antwort vielfach schwer, denn Kiebitz und Co. befinden sich in Niedersachsen seit vielen Jahren auf dem Rückzug. Dabei hat Niedersachsen besonders für diese Artengruppe eine besondere nationale und internationale Verantwortung: 2/3 aller bundesdeutschen Uferschnepfen leben in Niedersachsen. Geht es ihnen hier schlecht, dann steht es auch bundesweit schlecht um diese Vogelart. Ein Blick auf die Bestandsentwicklung der Uferschnepfe in Niedersachsen macht deutlich, dass die Art kurz vor dem Kollaps steht. Waren in Niedersachsen 1985 noch knapp 6.000 Brutpaare heimisch, so sind es 30 Jahre später nur mehr etwa 2.000 Brutpaare. Anderen Wiesenvogelarten geht es nicht viel besser wie ein Blick in den niedersächsischen Brutvogelatlas beweist. Ähnliche Entwicklungen finden sich im Übrigen auch in vielen anderen Bundesländern und Nachbarstaaten Deutschlands. Das Bundesamt für Naturschutz gibt in seinem Grünlandreport an, dass in der Kulturlandschaft der Europäischen Union heute 300 Millionen Vögel weniger leben als noch vor 30 Jahren – ein trauriger Rekord!

Wie konnte es soweit kommen? Diese Frage muss man sich besonders in Niedersachsen stellen, denn aus der besonderen Verantwortung für Wiesenvögel ist längst eine internationale Schutzverpflichtung geworden. Die EU-Vogelschutzrichtlinie verpflichtet die Mitgliedsstaaten dazu, die geeignetsten Gebiete für bestimmte Vogelarten als Vogelschutzgebiete auszuweisen. In Niedersachsen wurden rund 100.000 Hektar Fläche als EU-Vogelschutzgebiete mit besonderer Bedeutung für Wiesenvogelarten an die EU-Kommission gemeldet. Dieser Flächenumfang mag auf den ersten Blick ausreichend erscheinen, doch fehlt aus Sicht des NABUs mit der Leda-Jümme-Niederung immer noch ein ca. 5.500 Hektar großes Niederungsgebiet mit besonderer Bedeutung für Wiesenvögel und nordische Gänse. Gerade wenn ein Bundesland eine besondere Verantwortung für eine bestimmte Artengruppe besitzt, sollte es für diese Artengruppe auch entsprechend mehr Gebiete ausweisen. Deshalb wird der NABU seine Forderung nach Nachmeldung der Leda-Jümme-Niederung aufrechterhalten.

Bilanz EU-Vogelschutzgebiete: In EU-Vogelschutzgebieten mit bedeutenden Wiesenvogelvorkommen besteht die Verpflichtung, dass sich der Erhaltungszustand dieser Arten nicht verschlechtert. Die gemeldeten Gebiete sind ferner hoheitlich bevorzugt als Naturschutzgebiet zu sichern. Wie nun sieht die Bilanz (mindestens) zehn Jahre nach der Meldung an die EU-Kommission aus? In der Mehrzahl der Gebiete: verheerend! Ob im Rheiderland, den Marschen am Jadebusen, Butjadingen oder den Raddetälern – überall gehen die Bestände zurück, besonders schnell bei der Uferschnepfe. Oft unterscheidet sich die Entwicklung in den EU-Vogelschutzgebieten nicht von derjenigen in der Normallandschaft. Dass damit gegen die EU-Vogelschutzrichtlinie verstoßen wird, ist seit langem bekannt – allerdings ohne dass daraus die notwendigen Konsequenzen gezogen wurden. Aus diesem Grund hat der NABU zwischenzeitlich eine Beschwerde bei der EU-Kommission eingereicht. Wo liegen nun die Gründe für diese Entwicklung, denn schließlich sind die gemeldeten Gebiete hoheitlich zu sichern? Wer sich allerdings die Verordnungen für die gemeldeten Wiesenvogelgebiete anschaut, traut seinen Augen kaum. Wer hier nach Verboten im Sinne einer angepassten landwirtschaftlichen Nutzung sucht, wird lange und vergeblich suchen. Obwohl zum Schutz von Gelegen und Küken eine reduzierte Weideviehdichte, späte Mahdtermine und ein Verbot von Schleppen und Walzen im Frühjahr notwendig sind, finden sich solche Verbote in kaum einer Verordnung. Auch Düngebeschränkungen, die auf Veränderungen in der Pflanzenartenvielfalt und -struktur abzielen, sucht man vergeblich. Erst recht die Verpflichtung, Wiedervernässungsmaßnahmen zu dulden, obwohl das zusammen mit einer extensiven Nutzung nachweislich die wichtigste Methode zur Stützung der Wiesenvogelpopulationen ist.

Rotschenkel – Foto: NABU/Thorsten Krüger

Freiwillige Verpflichtungen reichen nicht! Wie also will Niedersachsen seine Naturschutzverpflichtungen in den EU-Vogelschutzgebieten erfüllen, wenn nicht auf hoheitlichem Wege? Die Antwort lautet seit mehr als 10 Jahren: auf freiwilliger Basis. Da wären zunächst die Agrarumweltmaßnahmen für Wiesenvögel zu nennen. Hier verpflichten sich Landwirte für 5 Jahre zu einer an den Bedürfnissen der Wiesenvögel ausgerichteten Bewirtschaftung. Dafür erhalten sie einen finanziellen Ausgleich. Die Nachfrage nach solchen Agrarumweltmaßnahmen ist angesichts der bestehenden Schutzverpflichtungen allerdings gering. Darüber hinaus bietet das Land unterschiedliche Varianten des Wiesenvogelschutzes an, die entsprechend auch unterschiedlich wirksam sind. Besonders Varianten mit geringen Bewirtschaftungseinschränkungen, die beispielsweise eine erste Mahd bereits ab dem 20. Mai vorsehen, bieten für spät brütende Arten wie der Uferschnepfe keinen ausreichenden Schutz. Viele EU-Vogelschutzgebiete für Wiesenvögel sind auch bedeutende Rastgebiete für nordische Gänse. Auch für diese Artengruppe bietet Niedersachsen Agrarumweltmaßnahmen an, in dem sie den Landwirten für die Duldung der Vögel einen finanziellen Ausgleich für die auftretenden Ernteverluste anbietet. Eine extensive Nutzung der Grünlandflächen ist mit den Agrarumweltmaßnahmen für nordische Gänse nicht verbunden. Auch hat man es jahrelang versäumt, die Agrarumweltmaßnahmen für Wiesenvögel und für nordische Gänse zu koppeln, was fachlich unbedingt geboten gewesen wäre. In der jetzigen Förderperiode wurde lediglich eine zehnprozentige Kopplung festgelegt, das heißt, wer mit 100 Hektar Fläche an Agrarumweltmaßnahmen für nordische Gänse teilnimmt, muss auf mindestens 10 Hektar auch etwas für Wiesenvögel tun. Im ostfriesischen Raum wurde nicht einmal diese 10-Prozent-Kopplung durchgesetzt.

Die Praxis zeigt: Es geht auch anders. Es gibt im niedersächsischen Wiesenvogelschutz allerdings auch Lichtblicke, das heißt, einige wenige Gebiete, in denen die Bestände zunehmen oder gehalten werden konnten. Zu nennen sind hier beispielsweise die Dümmer-Niederung, die Unterelbe oder das Fehntjer Tief. Bei Schutzverpflichtungen auf etwa 100.000 Hektar Fläche machen diese Gebiete allerdings gerade einmal knapp 6.000 Hektar aus. Der Befund, dass es tatsächlich Gebiete mit positiver Entwicklung gibt, macht zunächst einmal deutlich, dass das Wissen um einen erfolgreichen Wiesenvogelschutz vorhanden ist. Was unterscheidet nun diese Gebiete von den anderen EU-Vogelschutzgebieten mit Wiesenvogelvorkommen? Zwei Unterschiede sind augenfällig: (1) Es handelt sich um großflächige Grünlandgebiete, die sich ganz überwiegend in öffentlicher Hand befinden. Der Ankauf erfolgte über Naturschutzprojekte bzw. mit Naturschutzmitteln. (2) Die Gebiete werden intensiv durch Naturschutzstationen vor Ort betreut. Der großflächige Ankauf ermöglichte nicht nur eine angepasste landwirtschaftliche Bewirtschaftung, sondern auch eine Verbesserung der Lebensbedingungen. Zu nennen sind hier insbesondere die (großflächige) Vernässung des Grünlandes, die Schaffung temporärer Gewässer und die Entfernung von Hecken und Feldgehölzen. Durch die kontinuierliche Betreuung vor Ort können sowohl die Durchführung von Naturschutzmaßnahmen als auch die Bewirtschaftung der Flächen den fachlichen Notwendigkeiten angepasst werden. Davon profitieren nicht nur die Vögel, sondern auch die Landwirte. Wer also Erfolge im Wiesenvogelschutz anstrebt, der muss sich an diesen Beispielen orientieren. In diesem Zusammenhang positiv zu werten ist das Life-Projekt für Uferschnepfe und Wachtelkönig, das Niedersachsen vor einigen Jahren auf den Weg gebracht hat. Es wird hoffentlich dazu führen, dass sich die Verhältnisse für Wiesenvögel durch Flächenkäufe und Lebensraummaßnahmen auf weiteren 1.000 – 2.000 Hektar verbessern. Angesichts der internationalen Verpflichtungen in diesem Bereich wird allerdings auch dies nicht reichen, es ist lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein. Ein Folgeprogramm, das nach Auslaufen des EU-Life-Projektes an seine Stelle tritt, ist derzeit nicht in Sicht.

Düstere Aussichten für die Wiesenvögel: Zusammengefasst lässt sich die Lage im niedersächsischen Wiesenvogelschutz nur mit dem Terminus „katastrophal“ bewerten. Bei anspruchsvollen Arten wie der Uferschnepfe läuft die Entwicklung derzeit auf einen Zustand hinaus, den wir vom Birkhuhn her bereits kennen: flächendeckender Zusammenbruch der Bestände bis auf wenige isolierte Vorkommen. Ob solche Inselvorkommen überlebensfähig sind, ist eine offene Frage. Unzweifelhaft besteht im niedersächsischen Wiesenvogelschutz ein dringender Handlungsbedarf. Aufgrund eigens eingegangener Verpflichtungen muss der Wiesenvogelschutz in Niedersachsen dringend massiv intensiviert werden, damit wir die Charaktervögel der norddeutschen Landschaften nicht vollends verlieren. Es drohen zudem hohe Strafzahlungen der EU, denn die Defizite sind inzwischen unübersehbar. Es lohnt sich daher für Niedersachsen mehr Geld für den Naturschutz einzusetzen als bisher. Der NABU hat klare Vorstellungen und Forderungen für einen erfolgreichen Wiesenvogelschutz an das Land und versucht im Rahmen seiner Möglichkeiten dazu beizutragen.

Text: Dr. Holger Buschmann, NABU-Landesvorsitzender / Fotos: NABU/Thorsten Krüger / Frank Derer