Der Tischlergeselle Maurice Pirags (21) verlässt sein Heimatdorf, um auf die Walz zu gehen
ECKERDE (red). Reisende Handwerker gibt es schon, solange es Menschen gibt, die ein Handwerk ausüben. Die Gesellen sollten vor allem neue Arbeitspraktiken, fremde Orte, Regionen und Länder kennenlernen. Die Tradition der Walz, wie sie heute noch ausgeübt wird, begann als im Mittelalter die Handwerker von einer großen Bauhütte (Vereinigung technisch geschulter Bauleute) in den Städten zur nächsten quer durch Europa zogen. Heute sind an die Stelle der Bauhütten andere Anlaufpunkte für die Wandergesellen getreten, wie z.B. inzwischen sesshaft gewordene ehemalige Wandergesellen oder andere Treffpunkte wie eigene Zunfthäuser in manchen Städten, die auch ihre Herbergen (Buden) sind. Wenn man auf die Walz gehen will, muss man die Gesellenprüfung bestanden haben, ehrbar, ledig, kinderlos und unter 30 Jahre alt sein.
Als Maurice Pirags in der 5. Klasse war, beschloss er, Tischler zu werden. So begann er nach der Schule eine Tischlerlehre in Springe. Bereits während der Lehre hörte er von der alten Tradition „auf die Walz zu gehen“. Sein Interesse war geweckt und er informierte sich ausführlich über das Wandern der Handwerkergesellen. Die Tippelbrüder gehören Handwerkervereinigungen an, die „Schächte“ genannt werden. Seit 2015 gilt die Walz als Kulturerbe der UNESCO. Auf dem Weg zu einer Geburtstagsfeier traf Maurice an einer Bushaltestelle in Hannover auf eine Gruppe von Wandergesellen. Er sprach sie an und erfuhr von ihnen, dass sie zu den Rolandsbrüdern gehören. Die Rolandsbrüder sind eine der fünf größten Schächte in Deutschland. Maurice besuchte die regelmäßigen Treffen der Rolandsbrüder. Auf einem dieser Zusammentreffen lernte er die Freien Vogtländer kennen, denen er sich anschloss. Die Freien Voigtländer gibt es bereits seit 1910. Die Mindestreisezeit beträgt bei den Freien Vogtländern zwei Jahre und einen Tag; doch länger ist natürlich auch möglich.
Am vergangenen Samstag um 12 Uhr begann die Wanderschaft von Maurice mit einer traditionellen Feier in seinem Heimatort Eckerde. Schließlich muss er auf seiner Wanderschaft einen Abstand von 50 Kilometern von seinem Dorf einhalten. Die Bannmeile beginnt am Ortsschild. Zu Beginn der Feierlichkeiten erfolgte die Einkluftung zu Hause durch sieben Gesellen. Er erhielt den schwarzen Hut mit breiter Krempe als Zeichen des freien Mannes, Schlaghose, Weste und Jackett aus Cord, sowie ein weißes, kragenloses Hemd (Staude). Den Stenz (Wanderstab) holte sich Maurice nach Absprache mit dem Förster selber aus dem Deister, schälte diesen ab und ölte ihn ein.
Anschließend gingen die acht Tippelbrüder zum Ortsschild von Eckerde, wobei das eine oder andere traditionelle Lied aus dem Repertoire der Wandergesellen gesungen wurde. Dort musste Maurice ein 80 Zentimeter tiefes Loch graben. Er bekam den obligatorischen goldenen Ohrring ins linke Ohr hineingesteckt. Dann wurde Maurice feierlich von seinen Eltern, Nachbarn und Freunden, die sich am Ortsausgangsschild versammelt hatten, mit vielen guten Wünschen verabschiedet. Die zu Papier gebrachten guten Wünsche wurden in einem gut verschlossenen Glasgefäß zusammen mit einer Flasche in das Loch gesteckt, das Maurice danach wieder zuschaufeln durfte. Zur Tradition gehört es auch, dass Maurice über das Ortsschild klettern musste. Erst danach ging er mit seinen Kameraden zu Fuß in Richtung Berlin. Dort angekommen bekam er am Abend als sichtbares Erkennungszeichen eines freien Vogtländers die sogenannten „Spinnerknöpfe“ aus Perlmutt rechts und links an das Revers von seinem Jackett und je drei an den linken und rechten Hosenschlag. An sein weißes Hemd wurde ihm die goldene Spange mit den Buchstaben FVD gesteckt als Zeichen der Ehrbarkeit. Jetzt ist er ein richtiger freier Voigtländer. Die ersten drei Monate darf er noch nicht arbeiten, sondern wird von einem Wandergesellen in das Leben auf der Walz eingeführt. In diesen drei Monaten darf er auch keinerlei Kontakt mit seiner Familie aufnehmen. Während der ganzen Wanderschaft darf kein Handy benutzt werden. Internet ist bei den Wandergesellen verpönt. Der Verein Heimattag Eckerde freut sich sehr darüber, dass ein junger Eckerder Mitbürger alte Traditionen aufrechterhält. Wir wünschen Maurice, dass er nach seiner Walz gesund und um viele Erfahrungen reicher an den Steigerplatz in Eckerde zurückkehrt.
Fotos + Text: Joachim Bauer